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Matreus
Verstoßen



Verstoßen



1
„So kann das nicht weitergehen. Wir brauchen Hilfe“, sagte Otti und strich sich durch die Haare. „Auch, wenn Z jetzt grade mal nichts vorhat. Seit Jona bei ihm ist, ist alles noch viel schwieriger geworden.“

Leonie sieht traurig zu Boden. Jona, ihr Mentor und Freund, hatte sich tatsächlich Zanrelot angeschlossen. Wie genau das geschehen konnte, wusste keiner. Vor allem nicht Leonie, die insgeheim für ihn geschwärmt hatte. Doch, dass er sie alle tatsächlich im Stich gelassen hatte und zu Zanrelot übergelaufen war, schmerzte sie sehr.

„Ach, hast du da jemand bestimmten im Sinn?“, fragte Karo schnippisch. „Wir können ja mal eine Annonce aufgeben: ‚Wächter über Lübeck suchen neuen Mentor zwecks Unterstützung gegen den schwarzen Magier Zanrelot’, oder was?“ Seufzend ließ sie sich ins Stroh fallen. „Otti, du hast ja Recht, aber wenn ich denke, was du denkst, gefällt mir der Gedanke gar nicht.“

Otti musste einen Moment über den letzten Satz nachdenken, um den Sinn darin zu erfassen.
„Ich glaube, wir denken das Gleiche!“

Pinkas sah beide nur verständnislos an. „Hallo? Kann hier mal jemand Klartext reden? Also ich habe keine Ahnung, was ihr denkt. Ihr werdet es mir schon erklären müssen. Oder weißt du, was los ist, Leo?“

Leonie sah vom Boden hoch. Sie musterte erst Otti und Karo, die eher missmutig dreinschauten. Und schließlich sah sie in Pinkas ratloses Gesicht. „Matreus“, sagte sie laut und deutlich.

„Was? Du spinnst doch!“, schimpfte Pinkas los. „Dem Typen traue ich keine 5 Meter über den Weg! Nee, ohne mich!“ Er sah hinüber zu Otti und Karo, die ihn bedrückt ansahen. „Nein, das ist doch nicht wirklich euer Ernst, oder? Der würde doch sofort jeden von uns an Z ausliefern, nur um sich bei ihm einzuschleimen.“

„Pinkas, nun komm mal runter“, fing nun auch Karo an zu schimpfen. „Das war ja erstmal nur eine Idee. Aber letztendlich haben wir echt nicht viel Auswahl. Und wir schaffen es alleine nicht. Er kennt sich unten aus. Er hat über 400 Jahre dort gelebt.“

„Ja, und dass Zanrelot ihn verstoßen hat, haben wir ja nun auch mitbekommen“, ergänzte Otti „Das hat Jona uns ja schon mehrfach erzählt. Das ist schon ein paar Wochen her. Und bisher ist Matreus nicht ein Mal hier aufgetaucht. Wer weiß, wo der überhaupt ist.“

Pinkas schüttelt ungläubig den Kopf. „Also ihr könnt mir erzählen, was ihr wollt. Das ist doch alles ein fauler Trick. Bestimmt ist der in der Unterwelt und alle spielen uns was vor. Sonst hätten wir ihn doch bestimmt schon mal hier oben irgendwo gesehen, oder nicht?

„Ich habe ihn gesehen“, warf Leonie ein. Sofort waren alle Augen auf sie gerichtet. „Schon ein paar Mal. Am Krähenteich. In der Nähe von Jonas Boot.“

„Was? Und das erzählst du uns nicht?“ Karo schüttelte den Kopf. „Leo, sowas musst du uns doch sagen. Was hast du denn dort gemacht? Und was hat er dort gemacht?“

„Nun regt euch nicht so auf. Ich bin nach dem Schwimmen noch mit dem Rad um den Krähenteich gefahren. Und war auch bei Jonas Boot. Auf der anderen Seite des Hügels, direkt am Krähenteich, ist doch diese kleine Bucht. Dort habe ich ihn sitzen sehen. Ich glaube nicht, dass er mich auch gesehen hat. Er sah sehr traurig aus.“ Leonie verzog das Gesicht. „Und überhaupt nicht böse. Er tat mir leid. Und ich wollte nicht, dass ihr zu ihn geht und ihn anpflaumt.“ Sie warf einen tadelnden Blick auf Pinkas. „Oder sonst irgendwas macht.“

Pinkas zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. „Na und? Ich habe ihm schon einiges zu erzählen. Aber das kann ich ja jetzt nachholen. Werden wir doch mal sehen, ob er wirklich nicht mehr zu Z gehört.“

Otti hielt ihn am Arm fest. Manchmal war sein Bruder aber auch extrem eigensinnig. „Das bringt doch nichts! Wenn er vorgabt hätte, uns was zu tun, um sich bei Z einzuschmeicheln, hätte er das längst tun können. Wie lange ist er nun schon weg? 2 Monate? 3? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es immer schwieriger ist, Zs Pläne zu durchkreuzen, seit Jona bei ihm ist. Jona zaubert viel besser als Matreus. Er kann es genauso wie Z sogar ohne Zauberstab. Das konnte Matreus nie. Und noch dazu sind wir ganz ohne Mentor. Mir gefällt die Idee auch nicht wirklich. Aber was sollen wir sonst tun?“

Pinkas schüttelte wiederum den Kopf. „Ich glaube echt nicht, was du da sagst. Na gut, dann lass uns doch hingehen und den tollen Matreus fragen, ob er nicht zur Anwechslung mal Lust hat, uns zu helfen, statt uns wehzutun und ins Verlies zu sperren. Würde mich ja wundern.“ Pinkas ging zur Tür und hielt sie für die Anderen auf. „Na los, worauf wartet ihr noch?“


2
Matreus ließ sich auf einen Stein am Ufer des Krähenteichs nieder. Hier hatte er seine Ruhe. Wenigstens tagsüber gehörte dieser Ort ihm. Abends wurde die kleine Bucht von alkoholisierten Jugendlichen bevölkert. Aber nun war es Nachmittag und er hatte noch ein paar Stunden. Schon früher war er gerne hier gewesen. Früher, als er noch zu Zanrelot gehörte. Nein, darüber wollte er nicht nachdenken. Er musste endlich einsehen, dass diese Zeit nun endgültig vorbei war. Zanrelot hatte ihn verstoßen. Er hatte ihm die Magie genommen, ihn aus der Unterwelt gejagt und ihm unmissverständlich klar gemacht, dass er ihn vernichten würde, sollte er jemals wieder einen Fuß nach unten setzen. Matreus zweifelte an keinem einzigen dieser Worte. Nun war er allein. Ganz allein in einer Welt, die ihm im Grunde genommen fremd war. Ohne jemanden, den er wirklich kannte.

Er seufzte leise vor sich hin. Was sollte er nun machen? Wie sollte er den Rest seines Lebens verbringen? Er hatte bisher nicht feststellen können, ob er nun altern würde. Dafür waren 9 Wochen nicht lang genug. Er wusste aber, dass er nun, da er nicht mehr an Elexier heran kam, wieder etwas essen musste. Sein knurrender Magen hatte ihn grade darauf aufmerksam gemacht, dass sein alter Feind aus Kindertagen, der Hunger, wieder da war. Grade wollte er sich erheben, um sich etwas Essbares zu besorgen, da knirschten gebremste Fahrradreifen im Sand.

Neugierig sah er zum Weg oberhalb der Bucht. Es verschlug ihm beinahe die Sprache. Die Wächter hatten ihn gefunden. Und anscheinend hatten sie ihn sogar gesucht, denn Pinkas sagte grade zu den anderen: „Na also, da ist er ja!“.

Die Kinder kamen den Weg herunter, legten die Räder auf den Rasen und krochen durch das Gestrüpp zu ihm durch.

Matreus sah alle der Reihe nach an. Was hatten sie vor? Wollten sie sich an ihm rächen? Für das, was er ihnen angetan hatte, als er noch Zanrelots Helfer war? Pinkas Miene schien genau das zum Ausdruck zu bringen. Aber Karo und Otti sahen eher unsicher aus. Nur Leonie schien gefasst zu sein. Sie lächelte ihn sogar ein bisschen an.

„So, so, die Wächter. Wie komme ich zu der Ehre?“, frage Matreus und versuchte dabei leicht spöttisch zu klingen. Er fühlte sich nicht grade wohl dabei, seinen ehemaligen Feinden so hilflos gegenüber zu stehen. Zumal Karo das Amulett um den Hals trug und Pinkas demonstrativ mit seinem Laserpointer rumspielte. Sicher wussten sie längst Bescheid darüber, dass Zanrelot ihn verstoßen hatte. Und auch, dass er keine Magie mehr hatte. Umso mehr wunderte es ihn, dass sie erst jetzt kamen. Er hatte sich schließlich nicht wirklich versteckt, er hatte sich lediglich von ihnen fern gehalten.

Pinkas war schneller als die anderen. „Wir wollten nur mal schauen, was so ein Halb-Dämon macht, wenn er in Rente geschickt wird. Entenfüttern im Park? Nicht sehr aufregend!“

„Pinkas!“, keifte Karo ihn an. „Das war ja wohl so was von daneben.“

Leonie sparte sich die Worte und trat Pinkas saftig gegen das Schienbein.

„Au!“, rief der getretene aus. „Spinnst du?“

Otti schob Pinkas zurück und trat vor ihn. Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Tut mir leid. Du weißt ja wie er ist.“

„Hey“, drängelte sein jüngerer Bruder sich wieder vor. „Du brauchst dich für mich nicht entschuldigen. Und erst recht nicht bei dem da!“

Matreus stand auf und hob beschwichtigend die Hände. „Kinder, euer Auftritt hier ist ja ganz amüsant. Aber wenn ihr nichts Bestimmtes von mir wollt, dann lasst mich doch bitte wieder allein, ja?“

„Otti, übernimm du das bitte, ja?“, bat Karo, nahm Pinkas am Arm und zog in zurück zu den Fahrrädern.

Otti kam sich ein bisschen verlassen vor, wie er so vor diesem großen, erwachsenen Mann stand und nicht so recht wusste, wie er anfangen sollte. Leonie kam zu ihm und nahm seine Hand. Der Wächter versuchte die Worte wieder zu finden, die er sich auf der Fahrt hierher zurechtgelegt hatte, aber sie waren wie weggeblasen.

„Ähm ja“, begann er unsicher. „Also wir haben da so ein Problem. Zanrelot. Aber das weißt du ja. Und ..ähmm. Naja, wir haben da jetzt noch ein Zweites. Und zwar Zanrelots Sohn.“ Otti stockte und überlegte, wie er seine Worte am Besten formulieren könnte, um den Mann vor ihm nicht zu verärgern oder zu beleidigen. Aber wie er es auch drehte und wendete, Matreus kam dabei einfach nicht gut weg. „Also Jona ist sehr mächtig an der Seite von Z. Und Z ist mit ihm zusammen mächtiger denn je zuvor, als du noch..ähm.. ihm noch geholfen hast.“

Matreus sah ihn ruhig an und hob nur die Augenbrauen. Worauf wollte der Junge nur heraus? Das Jona um längen besser war als er und magisch um 200 Prozent mehr begabt als er selber, war ihm durchaus bewusst. Aber was wollten die Wächter von ihm?

Otti räusperte sich und fuhr fort. „Ja, und wir stehen nun ziemlich blöd da. Weil Jona doch eigentlich unser Mentor war. Und so ab und an brauchen wir halt mal jemanden, den wir fragen können. Wegen so Unterweltsachen und so. Und wir haben uns gefragt, nachdem du ja nun nicht mehr zu Zanrelot gehörst und dich in der Unterwelt auskennst, ob du uns nicht ab und an mal aushelfen kannst.“ Er holte tief Luft. Endlich war es heraus, was er sagen wollte.

Matreus lachte leise vor sich hin und schüttelte den Kopf. „Du fragst mich wirklich, ob ich euch helfen will? Ich? Ich habe euch und die Wächter vor euch seit Jahrhunderten bekämpft. Selbst, wenn Zanrelot mich verstoßen hat; ich würde mich nicht mit ihm anlegen wollen. Ich euch Wächtern helfen. Du hast doch die Worte deines Bruders gehört. Die waren zumindest ehrlich. Er traut mir nicht. Und ich traue euch auch nicht. Was versprecht ihr euch davon? Wollt ihr, dass ich mich gegen Zanrelot stelle? Ist das ein Trick, oder ein Spiel, das ihr zusammen mit ihm gegen mich spielt?“ Wiederum schüttelt er den Kopf. „Nein, das kann gar nicht sein. Dafür bin ich ihm nicht wichtig genug, als das er seine Zeit mit mir vergeudet. Wie also sollte ich euch helfen, wenn ihr mir eh nicht traut und sowieso nicht ein Wort von dem glaubt was ich sage? Das hätte wohl keinen Sinn. Und der Preis dafür ist zu hoch, dass ich mich dafür gegen meinen Meister..gegen meinen ehemaligen Meister stelle.“

„Gute Antwort, Matreus. Das wird Vater gefallen!“, kam eine Stimme von rechts und Jona kam hinter dem kleinen Häuschen hervor, das am anderen Ende der Bucht stand. „Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis die Kinder so verzweifelt sind, sogar dich um Hilfe zu bitten.“ Er sah zum andern Ufer hinüber. Auch Karo und Pinkas kamen nun wieder angelaufen. Sie hatten Jonas Stimme gehört. „Glaubt mir, Kinder, da habt ihr keine gute Wahl getroffen, ausgerechnet Matreus als euren Mentor in die engere Wahl zu nehmen. Denkt mal darüber nach, was für Fehler er schon alles in der Unterwelt gemacht hat. Wollt ihr so einen Versager wirklich als Mentor? Vielleicht braucht ihr auch einfach eine Abkühlung. Ihr scheint ja Feuer und Flamme zu sein!“ Er lachte und lenkte einen Energiestrahl auf die Wächter. Er zog kurz die Hand zurück und alle vier landeten im Wasser. Dann drehte er sich zurück in die Unterwelt.

„Oh Mann, was für ein Arsch!“ rief Pinkas und versuchte zum Rand zu schwimmen. Die Kleidung und Schuhe waren innerhalb von Sekunden völlig durchnässt und zogen sie alle wie Blei nach unten. Leonie war am Schlimmsten dran. Der Teich war zwar nicht tief, aber lediglich Otti konnte grade so mit den Zehenspitzen den Grund berühren. Leonie hingegen hatte eine Sweatshirtjacke an, die sich immer mehr voll sog und sie nach unten zog. Sie versuchte, sich gegen die Steine hochzustemmen, aber ihre nasse Kleidung war einfach zu schwer. Wieder plumpste sie zurück ins Wasser. Sie war schon jetzt am Ende ihrer Kräfte.

Matreus war tatsächlich ein bisschen belustigt, als die Wächter unfreiwillig im See planschten. Doch dann sah er, wie Leo mühsam versuchte, aus dem Teich zu kommen. Sie schien ehrlich verzweifelt und völlig am Ende. Matreus gab sich einen Ruck und hielt ihr die Hand hin. „Komm, ich helfe dir.“ Als sie nicht sofort auf ihn reagierte, griff er mit beiden Händen ihren Arm und zog sie einfach daran heraus. Sofort bildete sich eine Wasserlache um die kleine Wächterin und sie fror erbärmlich durch den Wind, der ihre nasse Kleidung abkühlte. „Danke“, brachte sie nur heraus und ihre Angst, die sie seit Jahren von diesem Mann hatte, war wie weggeblasen. Er hatte sie gerettet.


3

Zwei Stunden später saßen sie alle zusammen auf Karos Bett. Sie hatte alle erstmal gründlich geduscht und die Kleidung vorsorglich schon mal gewaschen, damit Julia nicht böse werden würde wegen des gemeinsamen Badesee-Abenteuers.

„Na, das war dann wohl ein Reinfall“, sagte Karo und gähnte herzhaft. „Aber im wahrsten Sinne!“

„Also ich hätte nie gedacht, dass Jona sich mal so benehmen würde. Dass er nun an der Seite seines Vaters steht ist eine Sache. Aber dass er uns immer wieder mit solchen Dingen einfach nur ärgern will ist absolut gemein und unreif“, stellte Otti fest. „Da könnt ihr sagen, was ihr wollt, aber so was hat Matreus nie gemacht.“

Pinkas schnaubte verächtlich. „Natürlich hat der das nie gemacht. Der hat ja auch nur genau das gemacht, was Zanrelot ihm gesagt hat. Und der hat bestimmt nicht gesagt: Schubs die Kinder in den See. Wahrscheinlich ist Matreus einfach nur zu blöd, sich so was selbst auszudenken. Wenn sein ‚Meister’ ihm das nicht befohlen hat, kommt der doch nicht auf so was. Wahrscheinlich musste er ihm sogar befehlen, zu furzen!“

„Pinkas! Du bist echt so.. so.. da fällt mir nichts mehr zu ein!“ Karo schnappte sich ein Kissen und warf es ihm an den Kopf. „Dann lass doch du mal deine schlaue Idee hören zum Thema Mentor!“ Sie hielt die Hand hinter das Ohr und lauschte in Pinkas Richtung. „Na, was ist? Ich kann nichts hören! Ja, erst große Klappe haben und dann kommt nichts.“

Leonie wurde langsam ungeduldig. „Könnt ihr jetzt nicht mal aufhören zu streiten? Irgendwie bringt das ja wohl gar nichts, oder?“

Verlegen legte Pinkas das Kissen wieder hin, das er soeben zu Karo zurückwerfen wollte.

Otti, der sich bisher in Gedanken versunken zurück gehalten hatte, mischte sich ins Gespräch ein. „Leonie hat Recht. Wir müssen eine Lösung finden. Also ich glaube nicht, dass wir Matreus dazu bringen können, uns zu helfen. Seine Antwort war wohl deutlich. Ich glaube, er hat große Angst vor Zanrelot. Und die hätte ich wohl auch an seiner Stelle. Ich meine, er war so lange Zeit dort unten. Was muss vorgefallen sein, dass Z ihn so plötzlich verstößt?“

Leonie zuckt mir den Schultern. „Keine Ahnung. Aber er tut mir leid. Er ist ganz allein und hat kein zu Hause. Wer weiß, wo er überhaupt schläft.“


4

Leonie konnte sich den ganzen Morgen nicht konzentrieren. Sämtliche Schulstunden zogen am Horizont an ihr vorbei. Erst, als die Klingel die letzte Stunde beendete, wurde sie langsam munter. Ja, sie hatte einen Entschluss gefasst. Sie würde nochmals zu Matreus gehen. Jetzt sofort. Alleine. Sie stieg auf ihr Fahrrad und radelte zum Krähenteich. Doch an der Bucht war er nicht. Sie wusste, dass auf der anderen Seite des Hügels Jonas Boot lag. So nahm sie ordentlich Anschwung und nahm den direkten Weg, anstatt über die Wege außen herum zu fahren. Kaum hatte sie die Kuppe erreicht sah sie auch den Gesuchten. Matreus lehnte am Geländer unterhalb der Brücke, vor der Jonas Boot lag. Sie ließ sich noch ein paar Meter rollen und bremste dann ab. Doch das Gras war vom Regen noch nass und so rutschte sie ungewollt weiter. Sie kam ins Schleudern und schlidderte den Abhang herunter Richtung Trave. Doch dann griffen zwei Hände nach ihr und heilten sie fest. Matreus hatte sie geistesgegenwärtig festgehalten. Das Fahrrad rutsche noch ein Stückchen weiter und blieb dann am Rande des Ufers liegen.

„Kind, was machst du für Sachen“, sagte er und in seiner Stimme schwang tatsächlich Besorgnis mit. Er ließ sie runter, setzte sie ins Gras und gesellte sich dazu.

Leonie grinste. Der erste Schreck war bereits vorbei. „Naja, was Kinder halt so machen“, grinste sie keck. „So was hast du doch als Kind bestimmt auch gemacht, oder nicht?“

Matreus sah sie kurz an, schüttelte den Kopf und blickte in den Fluss. „Nein, so was habe ich als Kind nicht gemacht.“ Er machte eine lange Pause. „Als ich so alt war wie du, mussten Kinder mithelfen und arbeiten, um die Familie zu ernähren. Zum Spielen blieb keine Zeit.“

Die Wächterin musterte ihn von der Seite. „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte sie mit kindlicher Neugier.

Der blonde Mann schmunzelte. „Ich habe aufgehört zu altern, als ich so 35 war. Und das bin ich nun schon eine ganze Weile.“ Er sah kurz zu ihr rüber. „Das ist dir nicht genau genug, was? Also mein genaues Geburtjahr weiß ich gar nicht mehr. Das wird irgendwann unwichtig, wenn man unsterblich ist. Aber es dürfte so um 1540 gewesen sein.“

„Puh, das ist wirklich lange her!“, meinte Leonie. Das alles interessierte sie sehr und sie freute sich, dass Matreus ihr Auskunft gab. Inzwischen hatte sie keine Angst mehr vor ihm. Er hatte sie nun schon das zweite Mal gerettet. Und wenn sie genau drüber nachdachte, hatte er sie auch früher nie ernsthaft verletzt. Eigentlich war Z derjenige, vor dem sie Angst haben musste und auch hatte. Aber nicht dieser Mann hier, der neben ihr im Gras saß und sich halbwegs entspannt mit ihr, einer Achtjährigen, unterhielt. Sie fragte sich, ob sie wohl noch weiter fragen durfte, oder ob er ihr irgendwann böse werden würde. Aber dann konnte er ja einfach gehen oder sie wegschicken. Aber wer weiß, ob sie jemals wieder die Möglichkeit bekommen würde, mit ihm so zu reden.

„Und wie alt warst du, als Du zu Zanrelot gekommen bist?“, fragte sie vorsichtig weiter.

Matreus spürte, dass Leonies Fragen ihn nun mehr bedrängten. Noch nie hatte er mit jemanden über seine Kindheit gesprochen. Oder über sein Leben dort unten. Es hatte nie jemanden interessiert. Die einzigen Menschen, mit denen er näheren Kontakt hatte, waren Zanrelot und Jona. Und die kannten ihn von klein auf. Einen Moment lang überlegte er, ob er das Gespräch beenden sollte, aber die Kleine schien wirklich interessiert und nicht darauf aus, ihn auszuhorchen.
„Ich war damals um die 10. Jona war etwas älter als ich. Knapp 12. Jonas Mutter war gestorben, bei der wir beide gelebt hatten. Und so nahm Zanrelot uns auf. Die Pest herrschte grade in Lübeck und wir konnten nirgendwo hin. Hätte er uns nicht aufgenommen in der Unterwelt, wären wir beide wohl nicht mehr am Leben.“ Innerlich schüttelte Matreus den Kopf über diese Lüge. Ja, er hatte sie beide aufgenommen. Seinen Sohn mit Freuden, aber ihn selbst nur als lästiges Anhängsel. Doch das war zu kompliziert und zu schmerzhaft, um das alles genau zu erklären. Das würde sie in ihrem Alter wahrscheinlich auch gar nicht richtig verstehen.

„Und seit dem lebst du dort unten und tust, was Zanrelot von dir verlangt?“

„Bis vor Kurzem ja. Ich hatte ihm alles zu verdanken. Er hat mich aufgenommen, als ich nirgends hin konnte. Er hat mit einen Platz zum Schlafen gegeben, zu Essen, hat mich erzogen und mich die Magie gelehrt. Ich habe ihm viel zu verdanken. Und ja, dafür habe ich alles getan, was er von mir verlangte.“ Er musste ein Schaudern unterdrücken, als einige Erinnerungsfetzen an ihm vorbeizogen. Zanrelots Erziehung war hart und schmerzvoll und wurde hauptsächlich mit einem Rohrstock vollzogen. Und die Lehrstunden in Magie waren nicht weniger schmerzvoll gewesen.
„Es ist nicht viel anders als bei dir, Leonie. Deine Eltern sorgen für dich, sorgen dafür, dass du ein Dach über den Kopf hast, was zu essen, was anzuziehen. Und als Gegenleistung verlangen sie, dass du zur Schule gehst und deine Hausaufgaben machst. Dass du artig bist und sie respektierst. Und ab und an noch im Haushalt hilfst. Zanrelot und ich, wir kommen aus einer anderen Zeit. Damals haben Kinder nicht gespielt wie ihr heute.“

„Und was hast du dort gemacht wenn du frei hattest?“

„Ich hatte kein frei. In der Unterwelt gibt es immer etwas zu tun.“

Sie sahen beide zur Trave und hingen ihren Gedanken nach.

„Bist du traurig, dass du nicht mehr nach unten darfst?“, frage sie nach einer langen Pause

„Ja, ein bisschen“, antwortete er wahrheitsgemäß.

„Warst du glücklich dort unten?“

Matreus seufzte. „Dort unten ist man nicht glücklich, Leonie. Solange der Meister nicht glücklich sein kann, ist keiner glücklich. Und er ist erst wieder glücklich, wenn er nicht mehr dort unten sein muss.“

Wieder folgte eine Pause.

„Und warum bist du dann traurig, dass du nicht mehr zu Zanrelot runter darfst, wenn du dort doch nicht glücklich sein kannst?“

Er warf ihr einen erstaunten Blick zu. Ja, das war tatsächlich eine interessante Frage. In ihrer kindlichen Naivität hatte das Mädchen die Fragen aller Fragen gestellt.

Nach einer ganzen Weile erst antwortete er. „Weil das alles ist, was ich habe.“

Leonie sah ihn an. Wieder sah sie das traurige Gesicht, das sie schon mehrmals gesehen hatte, als sie ihn heimlich beobachtet hatte.

„Du könntest aber viel mehr haben.“ Sie sammelte etwas Mut bevor sie weiter sprach. „Ich weiß, du willst uns nicht helfen. Ich habe gehört was du gestern gesagt hast, aber ich glaube, das war nicht alles ganz ernst gemeint. Wenn du uns helfen würdest, hättest du zumindest noch uns hier oben. Und was zu tun.“

Sie erwartete keine Antwort. Stattdessen sah sie wieder zur Trave hinaus.

Matreus dachte nach über das, was er soeben Leonie erzählt hatte. Sie hatte Recht. Die kleine achtjährige Wächterin hatte tatsächlich Recht. Er hatte nichts zu tun und nichts zu verlieren. Außer seinem Leben vielleicht, wenn Zanrelot herausfand, dass er den Wächtern half. Und selbst das war nicht mal sicher. Die Alternative wäre, bis in alle Ewigkeit allein zu bleiben. Und darüber nachzudenken, was er in seinem Leben alles nicht hatte und nie haben würde.

Irgendwann ergriff Leonie wieder das Wort.

„Und, was machst du jetzt so den ganzen lieben langen Tag?“, fragte sie.

Er grinste sie an. „Frei haben?“

Unvermittelt fingen beide an zu lachen. Es tat ihm gut, endlich einmal frei lachen zu können. Und auch Leonie sah, wie ein Teil der Anspannung von ihrem Sitznachbarn abfiel.

In diesem Moment hielten hinter ihnen 3 Fahrräder. Karo, Otti und Pinkas hatten sie schon gesucht. „Leonie, was machst du denn hier?“, fragte Karo besorgt und sah den grinsenden Matreus misstrauisch an. „Los, komm jetzt.“

„Ja, Ja, ich komme ja schon“, sagte sie und nahm ihr Fahrrad. Dann drehte sie sich noch mal zu dem blonden Mann um. „Und Matreus kommt auch“, bestimmte sie und zwinkerte ihm zu.


5

Eine halbe Stunde später kamen Leonie, Otti und Matreus an der Wächtervilla an. Pinkas hatte es nicht eingesehen, sein Fahrrad zu schieben und somit doppelt so lange zu brauchen wie sonst. Und Karo war mit ihm gefahren, um schon mal die Eltern aus dem Weg zu lotsen.
Sie hatten nicht viel gesprochen. Jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.

Karo kam aus dem Haus gestürmt. „Die Luft ist rein, ich habe Sascha und Mama vorgeschlagen, doch mal ins Kino zu gehen.“

Sie gingen gemeinsam zur Scheune. Pinkas wartete bereits auf sie. Leonie ging als letztes der Kinder hinein und hielt die Tür für Matreus auf. Er zögerte. Bisher war es ihm nicht möglich gewesen, die Scheune zu betreten. Es war ein für die Wächter gesicherter Ort gewesen, den Dämonen nicht betreten konnten. Doch Zanrelot hatte ihm die Magie genommen. Und er stand auch nicht mehr in dessen Diensten. Leider konnte er sich nicht mehr genau erinnern, was der Meister ihm bezüglich der Scheune erklärt hatte. Warum sie dort nicht hinein konnten. Die Tatsache, dass es so war, hatte ihm bisher als Erklärung genügt. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf den Boden im Inneren der Scheune, um ihn sofort wieder wegzuziehen. Er zog scharf die Luft ein, unterdrückte einen Schmerzensschrei und humpelte ein paar Schritte zurück. Sein Fuß brannte wie Feuer.

Er lies sich ins Gras fallen und biss die Zähne zusammen. Er wollte vor den Wächtern nicht zeigen, wie sehr es schmerzte. Und tatsächlich war ihm kaum etwas anzumerken. Diese Technik, die er in den Jahren bei Zanrelot nahezu perfektioniert hatte, kam ihn nun zugute.

Trotzdem hatte Leonie wieder einmal etwas mitbekommen. Sie kam wieder heraus und sah ihn mitfühlend an, während er es sich im Gras anscheinend gemütlich machte.

Einen Moment später stand Pinkas spöttisch grinsend in der Tür. „Püh. Ich habe euch doch gesagt, er ist immer noch ein Dämon. Sonst würde er doch in die Scheune kommen können. Jona hatte auch noch zanrelotische Magie in sich und konnte trotzdem hier rein.“

„Jona war euer Mentor und stand unter dem Schutz des Rates der alten Wächter“, erklang plötzlich Tante Hedda Stimme. Und kurz darauf war auch ihr Geisterkörper zu sehen.

Matreus stand auf, als er ihre Gestalt sah. Er wusste genau, dass sie ihn niemals hatte leiden können. Und das wird sich auch in den Monaten nicht geändert haben, in denen er sie nicht gesehen hatte. Er nickte ihr zu. „Hedda.“

Tante Hedda runzelte nur die Stirn. „Bitte geht ins Haus, Kinder. Matreus und ich werden das alleine bereden.“

Leonie wollte zuerst murren, doch Karo hatte sie schon mit sich gezogen. Alle paar Minuten ging sie zum Fenster und sah nach draußen. So langsam dämmerte es und es wurde dunkler und dunkler. „Boah, was reden die denn so lang? Es sind jetzt schon fast 2 Stunden!“, verkündete Leonie und ging wiederum zum Fenster.

„Leo, du gehst mir echt auf den Keks.“, pflaumte Pinkas sie an „Also ich bin echt nicht scharf drauf, dass der unser neuer Mentor wird. Was soll der uns schon beibringen. Der hat doch sonst selber nur Mist gebaut. Vor ein paar Wochen noch hat er dich vereist, Leonie, und jetzt schleppst du den hier an. Ich wüsste ja zu gerne, was du dem erzählt hast.“

Karo horcht auf. „Ja, das würde mich allerdings auch interessieren!“, stimmte die dem anderen Wächter zu. Doch statt einer Antwort, sprintete Leonie ganz aufgeregt zur Tür.
„Er ist weg. Er ist einfach gegangen!“

Grade wollte sie zur Tür heraus, da kamen Julia und Sascha ihr entgegen. Hey, wo willst du denn hin? Du solltest längst im Bett sein.“ Sie sah auf und fand ihre ganze Familie am Küchentisch sitzend vor. „Ihr alle solltet im Bett sein.“

„Aber ich muss doch noch..“, fing Leo an, wurde aber sogleich von Julia unterbrochen. „Heute musst du gar nichts mehr. Nur noch ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag und Ziege haben wir eben in den Stall gebracht. Marsch ins Bett. Und keine Widerworte!“

Bei diesen Worten fiel ihr ein, was Matreus vorhin am Ufer der Trave zu ihr gesagt hatte. ‚Deine Eltern sorgen für dich und verlangen dafür, dass du artig bist.’ Ja, er hatte Recht. Das war sie ihnen wirklich schuldig. Sie seufzte tief. „Ok, dann gute Nacht!“


6

Am nächsten Morgen stand Leonie früh auf und zog sich an. Kasimir lag noch in seinem Bett und blinzelte sie müde an. „Schlaf ruhig weiter, Kasimir. Frühstück gibt es erst später. Heute ist Samstag.“

Eilig lief sie die Treppe hinunter. Sie schlüpfte in ihre Turnschuhe und rannte hinüber zur Scheune. Wie erwartet war sie leer. Ihre Geschwister schliefen noch. Doch auf die hatte Leonie auch gar nicht gehofft. Eigentlich wollte sie wissen, was mit Matreus war. Doch auch der war weit und breit nicht zu sehen. Enttäuscht setzte sie sich auf einen Stuhl. Sie überlegte kurz. „Tante Hedda?“, rief sie. Doch nichts passierte. Wahrscheinlich hatte sie ihre Geister-Energie gestern bereits verbraucht.

Leonie stand auf und ging zurück zum Haus. Sie schnappte sich ihr Fahrrad und radelte in die Stadt. Doch weder an der Bucht noch bei Jonas Boot konnte sie sie ihn finden. Wo konnte er nur stecken? ‚Wahrscheinlich will er nicht gefunden werden. Er versteckt sich tatsächlich. Wo würde ich mich verstecken. Wo würden wir Kinder nicht nach ihm suchen?’, überlegte sie. Dann hellte ihr Gesicht auf. ‚Natürlich! Am Hafen!’ Sie stieg wieder auf ihr Fahrrad und radelte die Trave-Promenade entlang. Es war erst sieben Uhr morgens am Samstag, da war dort nicht viel los. Nachdem sie die Kongresshalle hinter sich gelassen hatte, fuhr sie direkt am Hafenbecken entlang. Und ja, tatsächlich. Dort vor Schuppen 6, auf der Kaimauer, saß er. Die Füße runter zur Trave baumelnd.

Matreus sah sie nicht an, obwohl er sie sehr wohl bemerkt haben musste. Sie lehnte ihr Fahrrad gegen die Wand und setzte sich zu ihm.

Eine Zeitlang sagte keiner von ihnen etwas. Dann brach Leonie das Schweigen.
„Na, hast du immer noch frei?“, fragte sie, aber so richtig fröhlich klang sie nicht dabei.

Jetzt erst sah er sie an und lächelte kurz. „Ja, und das werde ich wohl noch eine ganze Weile genießen können.“

Bestürzt blickte sie ihn an. „Hast du dich anders entschieden?“

„Sagen wir mal, der Rat der alten Wächter und ich sind uns nicht einig geworden.“

Als die Wächterin ihn fragend ansah sprach er weiter. „Sie trauen mir nicht. Genauso wenig wie Pinkas. Und ehrlich gesagt, ich würde mir an deren Stelle auch nicht trauen. Jona hat damals aus freien Stücken seinem Vater den Rücken gekehrt. Ich wurde vor ihm verstoßen. Sie glauben, dass ich mich bei euch einschleusen will, um Zanrelot Informationen zuzuspielen. Als Beweis, dass das nicht so ist, wollen sie Informationen von mir.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber die kann ich ihnen nicht geben. Es gibt Dinge, die kann ich einfach nicht verraten. Dinge, von denen ich weiß, dass sie ihm massiv schaden würden. Ihn vielleicht sogar vernichten. Nein, das ist es mir nicht wert.“

Wiederum warf er einen Blick auf das neben ihm sitzende Mädchen. „Ich glaube, das ist alles nicht einfach für dich zu verstehen. Ich versuche, es dir zu erklären.“ Er überlegte kurz. Die Wahrheit war hart zu ertragen für ein achtjähriges Mädchen. Aber sie war nun mal eine Wächterin und musste mit ganz anderen Dingen klarkommen. „Zanrelot hat mich verstoßen und mir gedroht, dass er mich töten würde, wenn ich nochmal die Unterwelt betrete. Ich weiß nicht, warum er so gnädig war. Er hätte mich auch gleich töten können. Die Macht hat er dazu. Verstehst du Leonie? Er hat mir zwei Mal das Leben geschenkt. Einmal als Kind, als er mich aufnahm, bevor die Pest mich erwischte. Und jetzt nochmal. Indem er mich gehen ließ, anstatt mich einfach zu töten.“ Er schluckte. „Wie also könnte ich dem Rat Informationen geben, die den Meister vernichten könnten, wo er mich zwei Mal verschont hat?“

Leonie sah Matreus an und merkte genau, dass er versuchte die hochkommenden Tränen in seinen Augen wegzublinzeln. Sie nickte. „Ja, ich glaube ich verstehe das.“

Der blonde Mann schnaufte. „Es ist wirklich unglaublich, dass eine achtjährige Wächterin das versteht und der Rat der alten Wächter mit seiner 400jährigen Erfahrung nicht zu wissen scheint, wovon ich spreche. Aber vielleicht kannst du es ihnen ja erklären.“

Die kleine Wächterin atmete ein paar Mal tief ein und aus. Matreus tat ihr einfach leid. Dann stand sie auf.

„Darf ich dich trotzdem ab und zu besuchen kommen?“, frage sie und legte kurz ihren Arm um seine Schulter.

Gerührt von der Geste versuchte er, die Fassung zu wahren.
„Das würde mich sehr freuen.“


7

Mit viel Schwung landeten Karo in Pinkas im Stroh in der Scheune.

„Puh, das war aber mal richtig knapp!“ stöhnte Pinkas und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Dann grinst er Karo keck an. „Naja, Hauptsache die Haare liegen!“

Karo konnte nur stöhnen. Für viel mehr hatte sie grade keine Kraft. Einen Moment lang blieb sie liegen, dann rappelte sie sich auf. „Aber mal richtig knapp ist wohl ein bisschen untertrieben! Wir haben keine Chance gegen Z und Jona. Otti ist seit 2 Tagen im Verlies. Und wo Leo ist weiß auch keiner“. Sie musste ein paar Tränen unterdrücken. „Ich mache mir schreckliche Sorgen. Seit 3 Tagen ist sie nun schon weg. Sie muss schreckliche Angst haben! Ich hoffe nur, dass wenigstens Kasimir bei ihr ist.“

Nun sah auch Pinkas betroffen aus. An Leo hatte er in diesem Moment gar nicht gedacht. Er hatte Karo nur ein wenig aufheitern wollen. Ratlos saßen sie nebeneinander.

„Pinkas, wir brauchen definitiv Hilfe!“, sagte sie bestimmt. „Und diesmal werden wir nicht locker lassen. Und er wird mitkommen.“ Sie sah ihn bestimmend an. „Weil DU ihn drum bitten wirst!“

Der junge Wächter sah sie erstaunt und entrüstet an. „Was? Du spinnst wohl? Ich werde den ganz bestimmt um gar nichts bitten!“ Er stand auf und schüttelte den Kopf. „Nee, Karo, ich traue dem nicht über den Weg. Bestimmt jagt der uns noch in Zs nächste Falle hinein!“

Karo stand auf und schüttelte ebenfalls den Kopf. „Wir haben wohl keine Wahl. Wir schaffen es nun mal nicht alleine. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis Z uns auch einkassiert hat. Wir haben nichts zu verlieren.“ Sie musterte ihn kurz. „Ok, außer deinem Stolz haben wir nichts zu verlieren. Aber der ist mir echt grade mal sowas von egal!“ Sie ging zur Tür. Als sie merkte, dass der Junge ihr immer noch nicht folgte, drehte sie sich nochmal kurz um. „Was ist? Oder willst du Otti und Leo dort unten versauern lassen und Z den Weg nach oben freimachen?“


8

Matreus war grade von der Arbeit heimgekommen. Wie so oft, wenn er das Boot betrat, fühlte er einen Stich. Es war ihm nach wie vor unangenehm, auf dem Boot seines gehassten Cousins zu wohnen. Aber da ihm nicht viele andere Möglichkeiten blieben, versuchte er, sich damit abzufinden. Jonas wenige private Dinge hatte er zusammen mit seiner grässlichen Kleidung in einen Karton gepackt und unter dem Bett verstaut. Er öffnete den Schrank, um seine Uniform hineinzuhängen. Immer wieder musste er grinsen, wenn er daran dachte, dass er jetzt tatsächlich einen Job hatte. Er hatte nie gedacht, dass es tatsächlich etwas für ihn zu tun gab hier oben. Oder, dass er jemals einen Job annehmen würde. Aber er brauchte nun mal einige Dinge wie Lebensmittel und konnte sich auf Dauer nicht immer etwas „besorgen“.

Auch in jener Nacht war er wieder durch die Gegend gestreift. Der Hunger hatte ihn heraus getrieben. Es hatte leicht genieselt. Die Straßen waren leer. Diesmal war er von seiner üblichen Route abgewichen und war ein Stück außerhalb der Innenstadt herumgestreift. Plötzlich hörte er laute Stimmen und ein klirrendes Geräusch. Neugierig war er den Stimmen hinterhergegangen. Vermutlich waren es nur Einbrecher, aber sowas brachte wenigstens ein bisschen Abwechslung in das langweilige Leben hier oben.

Doch seine Annahme war falsch gewesen. Es war kein einfacher Einbruch. Drei angetrunkene Jugendliche wollten ein bisschen Spaß haben und hatten die Scheibe eines Gebäudes eingeworfen. Er las den Schriftzug am Gebäude und musste lachen. „Hallmer“ stand darauf in großen Buchstaben. Das war die Firma, die Zanrelots magisches Computerspiel hergestellt hatte. Wieder ein Plan, der letzten Endes von den Wächtern vereitelt worden war.

Dann errungen die lauter werdenden Stimmen wieder seine Aufmerksamkeit. Eine Weitere war dazu gekommen. Ein älterer Herr in Unform versuchte, die Jungen wegzujagen, doch stattdessen verhöhnten sie ihn. Matreus spürte, wie er innerlich unruhig wurde. Er ging näher heran, um die Szene besser beobachten zu können. Sie brüllten den Mann an, beschimpften ihn und griffen ihn schließlich sogar an.

Das war zu viel für Matreus. Er sprintete zu der Gruppe und packte einen der Jungst, der anscheinend der Anführer war, grob am Kragen und riss ihn herum. Auch wenn er keine Magie mehr hatte war Matreus noch immer recht kräftig und vor allem sportlich. Mit diesen Jugendlichen zumindest konnte er es auf alle Fälle aufnehmen.

„Was fällt dir ein, dich hier so aufzuführen?“, raunzte er den Jungen böse an. „Hast du denn keinen Respekt erlernt? Das kann ich gerne nachholen!“ Er sah sich zu den anderen Jungen um, die erschrocken erstarrt waren. „Und wenn er ihn erlernt hat, mache ich mit euch weiter!“

Leicht belustigt sah er ihnen nach, als sie das Weite suchten. Der Junge, den er am Kragen gepackt hatte, schien nun wirklich Angst zu bekommen und fing an zu flehen und zu betteln.

„Wir haben das doch nicht so gemeint, das war doch nur ein Spaß. Bitte, ich tue es auch nie wieder. Lassen Sie mich gehen!“ Tatsächlich fing er nun auch noch an zu weinen.

Angewidert ließ Matreus ihn los. „Was bist du für ein Waschlappen hier so rumzuflennen, obwohl ich dir nicht mal was getan habe? Und deine „Freunde“ haben lieber ihre eigene Haut gerettet, statt dir beizustehen.“ Er schubste ihn leicht von sich weg. „Sieh zu, dass du hier wegkommst und denke an mich und diese Nacht, wenn du mal wieder vorhast, ein bisschen Spaß zu haben. Ich bin hier des Nachts öfter unterwegs!“

Matreus erinnerte sich gerne an diese Nacht. Nachdem der Jugendliche verschwunden war, hatte er ältere Herr sich bei ihm bedankt. Er war wohl schon mehrmals Opfer solcher Späße geworden. Er hatte seinen Retter zu einem Wurstbrot als Dank überredet und, nachdem sie eine Weile mit einander gesprochen hatten, hatte er ihm erzählt, dass sie noch einen weiteren Nachtwächter suchen würden. Matreus hatte zunächst dankend abgelehnt, aber schon 2 Tage später hatte er den ersten bezahlten Job seines langen Lebens angenommen.

Zunächst war es merkwürdig gewesen, des Nachts dort durch die Gegend zu streifen und regelmäßig in einen Plan einzutragen, dass alles in Ordnung war. Aber der alte Mann war ein sehr angenehmer Kollege. Er redete nicht viel und ließ ihn in Ruhe. Und tatsächlich machte ihm diese Beschäftigung Freude. Er hatte nun zumindest wieder eine kleine Aufgabe und wurde dafür sogar bezahlt.

Er zog seine Uniform aus und zog sich um. Von seinem ersten Geld hatte er sich neue Kleidung besorgt. Die bei allen beliebten Jeans und ein paar Hemden, Unterwäsche, Socken. Die schwarze Kleidung aus der Unterwelt hatte er zu Jonas Sachen in den Karton gepackt.

Er warf einen kurzen Blick auf den Kalender. Heute war Dienstag. Matreus runzelte die Stirn. Sonst kam ihn Leonie immer am Sonntag oder Montag besuchen. Doch sie war beide Tage nicht da gewesen. So langsam machte er sich Sorgen um sie. Fieberhaft überlegte er, ob er sie beim letzten Treffen irgendwie gekränkt oder verärgert hatte. Aber nein, sie war so fröhlich wie immer gewesen und hatte sich sehr gefreut, als er ihr erzählte, dass er nun eine Arbeit hatte. Er überlegte, ob er zur Villa der Wächter rauf gehen sollte, um nach ihr zu sehen. Doch dann entschied er sich dagegen. Weder die anderen Wächter noch Tante Hedda würden ihn dort sehen wollten. Vielleicht würde einer von ihnen ihn sogar angreifen, in der Annahme, dass er ihnen etwas tun wollte. Es blieb ihm nichts Anderes übrig, als zu warten. Seufzend ließ er sich auf das Bett nieder und döste vor sich hin.


9
„Und glaubst du wirklich, dass er uns jetzt hilft, nur weil ich ihn drum bitte?“, fragte Pinkas abermals, als sie die Fahrräder unter der Brücke abstellten, vor der Jonas Boot lag.

Karo war genervt. „Nein, nicht weil du ihn bittest. Er wird es tun, weil du ihn bittest und weil es um Leonie geht!“

Ihr Zieh-Bruder sah sie verblüfft an. „Was hat denn Leo damit zu tun?“

Das junge Mädchen kratze sich verlegen am Hals. „Eigentlich sollte ich es nicht erzählen. Ich habe es Leo versprochen. Aber was soll’s. Leo besucht ihn zwei Mal die Woche. Jetzt guck nicht so! Er tut ihr schon nichts. Sie sitzen nur im Gras und unterhalten sich. Sie sagt mir immer vorher Bescheid und sie hat mir hoch und heilig versprochen, nicht mit ihm irgendwo hinein zu gehen.“ Bedrückt sieht sie nach unten. „Ich würde ihm zwar nie irgend so etwas zutrauen, aber man kann nicht vorsichtig genug sein.“

Sie bemühte sich, das Thema schnell fallen zu lassen und ging hinunter zum Boot. Alles sah friedlich aus. „Entweder ist er nicht zu Hause oder er schläft!“, stellte sie fest.

„Mann Karo, der schläft doch nicht! Bist du jetzt ganz durcheinander, oder was?“ Pinkas klettert aufs Boot und macht dabei schon möglichst viel Lärm. Dann hämmert er rücksichtslos gegen das Fenster. „Hallo? Jemand da?“

Matreus hatte leicht vor sich hin gedöst, bis er sein lautes Poltern auf dem Deck vernahm. Jemand kam uneingeladen auf das Boot. Und das war nicht Leonie. Sie hatte das Boot bisher nicht betreten. Er sprang auf und machte sich auf einen Kampf gefasst. Im Grunde genommen fiel ihm nur eine Person ein, die sich so aufführen würde. Jonathan. Doch dann klopfte es lautstark am Fenster und er erkannte die Stimme von Pinkas. Augenblicklich fiel die Anspannung von ihm ab. Er öffnete die Tür nach oben, stieg halb hinauf und blieb dann auf der Treppe stehen.

„Was treibt ihr denn hier? Habt ihr euch verlaufen?“, fragte er spöttisch. „Und schlag nicht so auf das Fenster ein, das brauche ich noch!“

Nun kletterte auch Karo auf das Boot. Sie drängelte sich an Pinkas vorbei und setzte sich auf die Bank. „Hast du mal einen Moment Zeit?“, fragte sie.

Überrascht hob Matreus die Augenbrauen. Er fragte sich, was sie wohl diesmal von ihm wollten und hatte eigentlich keine große Lust, sich mit ihnen zu streiten. Aber vielleicht würden sie ihm sagen, was mit Leonie war. Er hatte die Kleine inzwischen sehr lieb gewonnen und machte sich Sorgen um sie. Sie war für ihn wie eine kleine Schwester und endlich hatte er erkannt, dass Geschwisterliebe ein ganz anderes Gefühl war als das, was er früher einmal für Jona empfunden hatte. Ohne ein Wort zu sagen, kam er ganz nach oben und setzte sich auf die gegenüberliegende Bank.

Einen Moment passierte gar nichts, dann gab sich Pinkas einen Ruck. „Also wir haben große Probleme mit Zanrelot. Und wir brauchen jetzt echt mal deine Hilfe!“

Matreus schüttelte den Kopf und wollte schon erwidern, dass er seine Entscheidung immer noch nicht geändert hatte, als Karo ihm zuvor kam.

„Also das ist nicht ganz das, worum es geht. Na ja, eigentlich doch schon. Also...“ Sie begann noch mal von vorne. „Also Zanrelot und Jona machen uns echt zu schaffen. Wir sind grade eben noch aus der Unterwelt entkommen.“

„Kinder“, unterbrach sie Matreus. „Ich habe euch schonmal gesagt, dass ich euch nicht helfen kann. Ich werde die Bedingungen des Rates nicht erfüllen!“ Er stand auf und zeigte zum Ufer. „Wie ihr nach Hause kommt wisst ihr ja.“

„Warte!“, rief Karo, als Matreus sich anschickte, wieder nach unten zu gehen. Er drehte sich um und sah sie fragend an. „Er hat Leonie. Sie ist seit drei Tagen dort unten. Wir konnten sie nicht finden. Wir wissen nicht wo sie ist. Sie wird furchtbare Angst haben.“ Sie sah ihn flehend an. „Sie hat mir gesagt, du bist ihr Freund. Du kannst sie doch nicht einfach im Stich lassen. Bitte, hilf uns nur dieses eine Mal!“

Betroffen kratzte sich Matreus die Handfläche und überlegte einen Moment. „Fahrt nach Hause und ruft Tante Hedda. Ich komme sofort nach.“


10

Matreus wartete, bis die Wächter außer Sichtweite waren, dann ging er zum Brückengeländer und schloss sein Fahrrad auf. Er hatte erst vor 3 Tage gelernt, wie man Rad fuhr. Er hatte es nie für nötig gehalten, es zu lernen. In der Unterwelt gab es so was nicht. Und in der Oberwelt hatte er sich entweder hin und her transferiert, oder, für längere Strecken, ein Motorrad oder Auto benutzt.

Er stieg auf und fuhr los. So langsam hatte er den Dreh raus und kam schon recht gut mit dem Gerät klar. Nur enge Kurven machten ihm noch Probleme. Eigentlich hatte er Leonie gestern zeigen wollen, dass er nun Radfahren konnte. Aber sie war ihn nicht besuchen gekommen. Sie war seit 3 Tagen in der Unterwelt. ‚Ja’, dachte er. 'Leonie muss wirklich schreckliche Angst haben dort unten.' Als er vorsichtig sie Straße entlang führ, erinnerte er sich unvermittelt an ein Gespräch, dass sie erst vor ein Paar Tagen geführt hatten.

„Würdest du wieder zurück in die Unterwelt gehen, wenn Z es dir anbieten würde?“, hatte Leo ihn gefragt und ihn dabei erwartungsvoll angesehen.

„Ganz ehrlich, Leonie. Ich weiß es nicht. Wenn überhaupt, würde er es befehlen. Und selbst daran glaube ich nicht. Jona ist froh, dass ich aus dem Weg bin und er wird alles daran setzen, dass es so bleibt, wie es ist.“

Leon ignorierte den Hinweis auf Jona. „Und würdest du gehen, wenn er es dir befiehlt?“

Er wandte den Blick ab und sah, wie so oft, auf die Trave. „Ja, ich glaube ich würde den Befehl befolgen.“

Traurig sah Leonie ihn an. „Aber ich dachte, es gefällt dir hier oben zumindest ein bisschen.“

„Ja, ein bisschen gefällt es mir hier.“ Er war immer wieder erstaunt, wie die Kleine in ihrer kindlichen Naivität immer wieder die entscheidenden Fragen stellte. ‚Wenn sie älter ist, wird sie ein richtig kluges besonnenes Mädchen sein!’, stelle er fest. Dann sprach er weiter. „Aber hier oben habe ich nichts.“

„Hier oben hast du mich!“, stellte sie fest. Einen Moment lang schwiegen sie, wie so oft. Dann ergriff Leo wieder das Wort. „Heißt das, du würdest dann auch wieder gegen mich kämpfen?“

Er sah sie ein wenig verlegen an. „Ich würde das tun, was der Meister von mir verlangt, Leonie. Und er würde wohl auch weiterhin verlangen, dass ich gegen die Wächter kämpfe.“

Er konnte Tränen in ihren Augen erkennen.
„Dann hoffe ich einfach, dass er dir nie befiehlt, dass du zurückkommen sollst.“, sagte sie. „Ich fände es ganz schrecklich, wenn wir wieder Feinde wären.“

Als Matreus bei der Scheune ankam, sahen Karo und Pinkas ihn merkwürdig an. Die letzten Meter hatte er einige Probleme gehabt, das Fahrrad in der Spur zu halten auf dem Schotterweg, der zum Haus führte. Er musste wohl doch noch ein bisschen üben.

„Tante Hedda war nicht sehr begeistert, als wir sie geweckt haben.“, sagte Karo. „Aber sie wartet auf dich. Komm Pinkas, wir verziehen uns mal.“ Sie nahm den Jungen am Arm und zog ihn mit zum Haus.

Einen Moment später erschien Heddas Geist. Ohne Einleitung kam sie zum Kern der Sache.
„Und? Hast du dich entschieden die Bedingungen des Rates zu erfüllen?“ fragte sie herablassend.

Matreus war schon drauf und dran wieder zu gehen. Doch wieder musste er an die kleine Leonie denken, die ihn so viele Male besucht hatte und ihn gern hatte.
„Nein. Hat der Rat sich denn entschieden, über mein Angebot nachzudenken?“

„Darauf wird sich der Rat nicht einlassen. Es muss schon eine gewisse Gegenleistung kommen, damit der Rat sich entschließt, dich gegen Zanrelot zu schützen. Und welche das ist, habe ich dir mitgeteilt.“

Er schnaubt verächtlich. „Ja, und ich habe dir mitgeteilt, dass ich das nicht tun kann und nicht tun werde. Auch wenn Zanrelot mich verstoßen hat, werde ich nicht dazu beitragen, ihn zu vernichten. Es ist was anderes, den Wächter zu helfen, als solche Geheimnisse zu verraten. Du weißt, dass ich loyal bin. Und wenn ich jemandem Loyalität geschworen haben, wenn halte ich mich da auch dran. Es sei denn derjenige will es nicht mehr.“ Er schüttelte den Kopf. „Weißt du eigentlich, dass Leonie seit drei Tagen irgendwo in der Unterwelt gefangen ist? Sie wird schreckliche Angst haben. Und ihr wollt ihr nicht helfen, weil ihr auf diese Informationen von mir besteht.“

Er wartet einen Moment, doch von Hedda kam darauf keine Antwort. „Weißt du was“, sagte er und stemmte die Hände in die Hüften. „Ich pfeife auf den Schutz des Rates. Ich werde Leonie, den Wächtern, jetzt helfen. Und wenn Zanrelot mich dafür schmerzvoll umbringt, dann ist das wohl mein Schicksal. Ich habe hier oben nicht viel zu verlieren. Aber die Kleine ist mir echt ans Herz gewachsen. ICH werde sie nicht in Stich lassen.“

Er drehte sich um und ging zum Haus hinüber. Pinkas und Karo standen bereits erwartungsvoll in der Tür. „OK, dann berichtet mir mal genau was geschehen ist. Ich werde versuchen euch zu helfen.“


11
Matreus saß am Küchentisch der Wächter und ließ sich erklären, was bisher vorgefallen war. Immer wieder schüttelte er zwischendurch den Kopf. Wie konnte der Rat der alten Wächter die Kinder nur allein kämpfen lassen, jetzt wo Jona an die Seite seines Vaters zurückgekehrt war. Sie waren völlig planlos vorgegangen und hatten sich immer weiter in Schwierigkeiten gebracht. Nervös kratze er sich mit dem Daumen in der Handfläche der anderen Hand, wie er es in solchen Momenten oftmals tat.

„Also ich fasse nochmal zusammen, ja? Otti ist im Verlies mit versteinerten Füßen. Wo Leo ist, wisst ihr nicht. Sie ist seit 3 Tagen verschwunden. Zanrelot hat ein Mittel entwickelt, das er über das Trinkwasser verbreiten will? Ja, das ist immer sehr einfach und schnell erledigt. Lübeck wird von 5 Wasserwerken versorgt. Die alle zu überwachen wäre unmöglich. Aber das Wasser wird gesammelt und von dort in die Häuser weiterverteilt. Das Virus muss nur in dieses Sammelbecken gegeben werden und schon ist ganz Lübeck verseucht.“
Matreus bemerkte, dass die beiden Kinder ihn erstaunt ansahen. „Na ja, erstens habe ich miterlebt, wie die Wasserversorgung gebaut wurde. Und zweitens gab es diesen Plan schon, als ich noch ... unten war.“

„Weißt du denn auch, was wir dagegen tun können?“, fragte Karo zweifelnd.

„Ja, das ist gar nicht so schwer.“ Er lachte. Bitte gebt mir aber erstmal einen Zettel und Stift, ich werde euch einen Plan der Unterwelt aufzeichnen, mit dem ihr auch was anfangen könnt. Und dann brauchen wir das Telefon und die Nummer vom Wasserwerk.“

Pinkas sah ihn abschätzend an und blieb auf seinem Stuhl sitzen, als Karo losging um das Telefon zu holen. ‚Jetzt fängt der auch noch an, uns Anweisungen zu geben, oder was? Das ist doch alles nur ein Trick. Einen Plan von der Unterwelt haben wir. Aber die verändert sich ja ständig. Was soll der Quatsch also?’

Der blonde Mann bemerkte, dass der junge Wächter ihm nicht im Mindesten vertraute. Aber das konnte er jetzt auch nicht ändern. Sie hatten keine Zeit, sich jetzt um solche Dinge zu kümmern. Sie mussten Leonie und Otti befreien.

Auch Karo stellte fest, dass Pinkas sich nicht bequemt hatte einen Zettel zu holen. Stöhnend ging sie zur Anrichte, nahm Zettel und Kugelschreiber heraus und legte alles auf den Tisch.

„Was hast du jetzt vor?“, fragte sie, als sie die Nummer der Stadtwerke rausgesucht hatte.

„Man braucht nicht für alles Magie.“, antwortete Matreus. „Das habe ich in den Monaten hier oben herausgefunden.“ Er wählte die Nummer und wartete einen Moment.

„Ja, guten Tag, Sörensen mein Name. Also ich glaube, irgendwas stimmt mit dem Wasser nicht. Meine Kinder haben Bauchweh und Durchfall und dabei haben sie heute nur Tee getrunken. Und in dem Aquarium, das ich heute aufgefüllt habe, sind nun schon drei Fische gestorben. Da ist irgendwas nicht in Ordnung! Wenn meinen Kindern irgendwas passiert, werde ich Sie höchstpersönlich verklagen. Ach, sie werden sich unverzüglich drum kümmern? Das will ich aber auch hoffen. Wo kommen wir denn da hin, wenn man jetzt nicht einmal mehr das Leitungswasser trinken kann!“ Unvermittelt legte er auf und grinste die Wächter an. „So, jetzt sollte es Jona sehr schwer fallen, dort unbemerkt hinein zu kommen und das Wasser zu verseuchen. Die sind alle in heller Aufruhr.“

Karo grinste ebenfalls. „Das war eine gute Idee. Und wir mussten nicht mal in die Unterwelt dafür.“

Doch Pinkas zerstörte diesen kleinen Moment des Erfolgs. „Also telefonieren hätten wir auch geschafft!“

Matreus sah ihn nur kurz an und begann dann zu zeichnen. „Habt ihr irgendeinen Hinweis, wo Leonie sein könnte?“, fragte er ohne aufzusehen.

„Nein“, antwortete Karo. „Z hat Jona nur angewiesen, sie wegzubringen und Jona meinte, er würde sie irgendwo einsperren, wo sie sich wünschen würde, allein zu sein. Aber ich habe keine ...“ sie unterbrach sich, als sie sah, dass Matreus Kopf unvermittelt hochschnellte.

„Hat er das genauso gesagt? Dann ist sie in der Seelenhalle. Es gibt dort eine Art Zelle. Es ist schrecklich dort. Die Seelen aus den Phiolen betteln die ganze Zeit, sie rauszulassen, dabei ist man selber gefangen.“ Schnell schluckte er den Kloß herunter, der sich in seinem Hals gebildet hatte, als die Erinnerungen an seine ‚Aufenthalte’ dort hochkamen. „Leonie wird sich zu Tode fürchten dort. Jona ist wirklich gemein.“


12
Ein paar Minuten später war Matreus fertig mit seiner Zeichnung und drehte sie um, sodass die beiden Kinder, die ihm gegenüber saßen, den Plan richtig herum sehen konnten.

„Also hier ist der Schleusenraum“, erklärte er. „Das Verlies ist hier, die Zentrale hier. Soweit kennt ihr das ja. Die Seelenhalle befindet sich hier ganz außen. Die hat eine Alarmanlage. Die müsst ihr zunächst ausschalten.“ Er musste sich selbst einen Ruck geben, um die nächsten Informationen preiszugeben. Schon jetzt fühlte er sich wie ein Verräter, obwohl er Zanrelot selbst damit nicht schaden würde. Er atmete tief ein und aus und sprach dann weiter. „Hier, gegenüber der Seelenhalle gibt es einen kleinen Raum. Die Tür ist direkt in eine Nische eingelassen. Kaum zu sehen. Dort drin gibt es ein Notfall-Terminal zum Computer.“

Überrascht sahen Karo und Pinkas ihn an. „Notfallterminal?“, fragte Karo. „Davon haben wir noch nie was gehört!“

Matreus sah beschämt zu Boden. „Davon wissen nur der Meister und ich. Und vielleicht inzwischen Jona. Karo, bitte unterbrich mich nicht. Du glaubst gar nicht, wie schwer es mir fällt, euch das alles zu verraten. Ich bin dem Meister immer treu gewesen, selbst noch in den Monaten hier oben. Aber ich tue es für Leonie.“

Er räusperte sich und erklärte dann weiter. „Mit dem Computer könnt ihr die Alarmanlage ausschalten. Die Zelle kannst du mit dem Laserpointer öffnen, Pinkas, die ist nicht gesondert gesichert. Aber passt um Himmels willen auf, keine der Phiolen vom Regal zu fegen. Dann gibt es einen Mords-Alarm, den nur Zanrelot persönlich abstellen kann. Wenn ihr Leonie befreit habt, könnt ihr Otti befreien. Mit ihrem Handschuh kann sie den Versteinerung-Zauber lösen. Dann solltet ihr erstmal nach oben kommen. Das Virus kann Jona momentan eh nicht ins Wasser bringen. Wer von euch kennt sich besser mit Computern aus? Ich weiß, eigentlich ist das Ottis Spezialität, aber der ist nun mal nicht da.“

Pinkas sieht ihn spöttisch an. „Warum auskennen? Den Computer kannst du doch wohl am Besten bedienen, oder nicht? Irgendwas kannst du ja auch tun. Oder ist das doch wieder nur eine Falle für uns? Erst so tun, als würdest du uns helfen und dann ausliefern?“

Matreus stand auf und wandte sich zur Tür. „Pinkas, ihr habt mich um Hilfe geben, nicht umgekehrt. Mehr als das, was ich euch gesagt habe, kann ich nicht sagen. Oder mehr tun. Dort runter müsst ihr alleine. Oder wir lassen es ganz und ich gehe einfach. Bestellt Leonie einen schönen Gruß von mir, wenn ihr sie irgendwann einmal wiedertrefft. Ich habe getan, was ich konnte.“

Er öffnete die Tür und wollte hinausgehen, als er merkte, dass jemand an seinem Arm zog. Karo war vom Stuhl aufgesprungen und zur Tür gelaufen. „Warte bitte. Pinkas ist ein Idiot. Du kannst uns nicht im Stich lassen. Leo braucht dich. Wir brauchen dich!“

Matreus wehrte sich nicht gegen das Mädchen und ließ sich zurück in die Küche ziehen.

„Ich kann dort nicht hinunter“, sagte er nach einer kurzen Pause und spürte, dass er seit langer Zeit wieder einmal anfing, vor Angst zu zittern. „Zanrelot hat mir prophezeit, dass er mich ... dass er mich vernichten wird, wenn ich jemals wieder einen Fuß in die Unterwelt setze. Und mit so was macht er keine Scherze. Nein, ihr müsst das alleine hinbekommen.“

Pinkas schnaubte verächtlich. „Was für ein Feigling. Eben noch große Töne spucken ‚ich tue es für Leonie’ und jetzt kneifen! Also ich traue es mir nicht zu, einen Unterwelt-Computer zu bedienen. Also brauchen wir es erst gar nicht versuchen und können gleich aufgeben.“

Matreus schüttelt den Kopf. „Und wer ist hier jetzt der Feigling? Aufgeben zu wollen, ohne es zumindest probiert zu haben? Du hast keine Ahnung, was Zanrelot alles mit einem anstellen kann. Glaube mir, in über 400 Jahren habe ich einiges erlebt, aber ihm fällt immer wieder etwas Neues ein.“

Karo hielt ihn immer noch am Arm und hatte selbstverständlich sein Zittern bemerkt. Sie sah zu ihm hoch und hatte Tränen in den Augen. „Ohne dich haben wir keine Chance.“


13

Also sie im Schleusenraum der Unterwelt ankamen, sprang Matreus sofort von der Plattform an die Seite. Er war ein wenig benebelt von dem ungewohnten Transfer mit der Schleuse. Doch er wusste genau, welcher Teil des Raumes auf dem Monitor zu sehen war und hatte sich nun in einen toten Winkel geflüchtet. Es raubte ihm beinahe den Atem, als er zum ersten Mal seit langem wieder die Geräusche und Gerüche der Unterwelt wahrnahm. Die trockene Luft und die Kühle hier unten. Er zitterte. Er hatte nur ein kurzärmeliges Hemd an. Hier unten hatte er sonst immer seine Lederjacke getragen. Doch das Zittern wurde nicht nur durch die Kühle verursacht. Jetzt, wo er tatsächlich die Unterwelt wieder betreten hatte, gab es kein Zurück mehr. Sobald Zanrelot ihn erwischte, würde es um ihn geschehen sein. Doch eine leise Hoffnung war in seinem Inneren. Vielleicht, ganz vielleicht, war einer der Dämonengötter ihm ja heute ausnahmsweise einmal gnädig gestimmt und er würde hier irgendwie vielleicht doch noch lebend wieder herauskommen.

Pinkas und Karo stiegen ebenfalls von der Plattform und gingen zur Tür. Sie sahen hinaus auf den Gang. „Die Luft ist rein“, wisperte Karo.

Vorsichtig machten die drei sich auf den Weg zur Seelenhalle. Matreus ging vor und benutzte schmale Gänge, die die Wächter noch nie zuvor wahrgenommen hatten. Nur nach ein paar Minuten standen sie vor der Seelenhalle.

„Versteckt euch in einer Nische, ich stelle die Alarmanlage ab. Und denkt dran: keine Phiolen runterschmeißen! Und keine Seele freilassen. Wie sehr sie auch betteln! Wenn ihr wieder raus seid, reaktiviere ich die Alarmanlage und warte auf euch in der Schleuse. Ohne euch komme ich nicht wieder hinauf.“ Er verschwand in einer kleinen, unauffälligen Tür und einen kurzen Moment später verschwand das Kraftfeld vor dem Eingang zur Seelenhalle. Vorsichtig gingen die Wächter hinein. Nur ein paar Meter vom Eingang entfernt fanden sie Leonie in der Zelle. Sie saß weinend auf dem Fußboden und hielt sich die Ohren zu.
„Leonie!“ Karo nahm ihre kleine verstörte Schwester in den Arm. „Es wird alles gut, komm mit. Wir müssen hier weg!“

Pinkas ging vor und klopfte dreimal an die kleine Tür, als sie raus waren. Er wartete nicht auf eine Antwort. Sofort gingen die drei Wächter weiter, um Otti aus dem Verlies zu holen.


14

Matreus saß wie auf Kohlen und wartete ungeduldig darauf, dass verabredete Klopfzeichen zu hören. Endlich, dort war es. Schnell schaltete er die Alarmanlage wieder an. Er unterdrückte das dringende Bedürfnis, rauszulaufen und nach Leonie zu sehen. Sie würde von ihm nur abgelenkt werden. Außerdem würde ihn ein solcher Abschied zu sehr schmerzen. Er wollte sie so in Erinnerung behalten, wie er sie in Erinnerung hatte. Grinsend neben ihm im Gras sitzend, während sie sich ein Stück Kuchen teilten.

Einen Moment wartete er noch, um sicher zu sein, dass die Wächter weit genug weg waren. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und schlich hinaus. Doch weit kam er nicht. Schon an der nächsten Ecke lief er direkt Jona in die Arme. Dieser packte ihn am Kragen und stieß ihn unsanft mit den Rücken gegen die Wand.

„Ich hatte nicht geglaubt, dass du es tatsächlich wagen würdest, noch einmal hier unten aufzutauchen“, knurrte er ihn an. „Aber als der Computer die Benutzung des Notterminal anzeigte, war Vater sich sicher, dass nur du das sein konntest. Ich glaube, die Wette habe ich verloren.“

„Jona, was ist nur aus die geworden? Dass du an die Seite deines Vater zurückgekehrt bist, war selbstverständlich. Aber wann bist du so abgrundtief gemein und böse geworden? Du quälst die Wächter, die du früher beschützt hast, ganz unnötig. Leonie in die Seelenhalle zu sperren ist einfach grausam. Eine solche Strafe hätte nicht mal der Meister für sie ausgewählt.“

Jona lachte über seinen Cousin. „Bist du etwa weich geworden, Matreus? Hast du nicht früher Ähnliches mit ihnen veranstaltet? Aber selbst wenn, ich kann selbst entscheiden, was ich mit den Wächtern mache. Ich brauche nicht wegen allem eine Anweisung von „meinem Meister“ einholen.“ Er zog den jüngeren Mann mit sich. „Los, wir gehen zu ihm. Ich werde ihm meinen Fang mal präsentieren. Mal sehen, was er dazu sagen wird. Ups, bist du etwa gestolpert?“

Matreus war der Länge nach auf den Boden gefallen. Jona hatte ihm ein Bein gestellt und gleichzeitig seinen Kragen los gelassen. Überrascht drehte er sich auf die Seite und sah hoch. „Das war eine miese Nummer, Jona!“. Er stützte sich auf den rechten Arm und versuchte aufzustehen. Der linke Arm brannte wie Feuer. Wahrscheinlich war er verstaucht, wenn nicht gar gebrochen.

Sein Cousin half ihm beim Aufstehen, indem er ihn wieder am Hemdkragen packte und weiter zerrte. „Ein bisschen Spaß musst du mir auch zugestehen.“, antwortete er.

Matreus versuchte, sich zu wehren, aber Jonathan war schon immer kräftiger als er gewesen. Er hatte wahnsinnige Angst davor, Zanrelot zu begegnen. Je näher er die Tür der Zentrale kommen sah, desto mehr versuchter er, sich gegen den Griff zu wehren. Schließlich wurde Jona das zu bunt. Verärgert schubste er ihn im vorbeigehen gegen eine Nische. Schmererfüllt schrie Matreus auf, als er mit voller Wucht gegen die Wand knallte. „Wenn du jetzt nicht aufhörst, drehen wir noch eine Runde.“, zischte ihm sein Peiniger zu. Matreus fügte er sich. Er konnte das Unvermeidliche nicht abwenden. Früher oder später würde er Zanrelot unter die Augen treten müssen.


15

Matreus ganzer Körper zitterte vor Angst, als sie die Zentrale betraten und er den Meister sah. Wie so oft saß er auf seinem Stuhl und betrachtete die Monitore. Als er die beiden eintreten sah, stand er auf und sah seinem ehemaligen Diener wutentbrannt an.

Jona schubste seinen Gefangenen ein Stückchen vorwärts und stellte sich dann auf die Plattform an sie Seite seines Vaters.

Matreus traute sich nicht, den Magier anzusehen. Einen Moment lang überlegte er, was er tun sollte. Dann ging er auf die Knie. Er wusste, dass Zanrelot das von seinen Untergebenen nicht erwartete und auch eigentlich keinen Wert darauf legte. Doch in diesem Moment schien es ihm angemessen. Er wusste, was ihm nun bevorstand. Zanrelot hielt jedes Einzelne seiner Versprechen. Auf jedes seiner Worte konnte man sich verlassen. Und wenn er versprochen hatte, er würde ihn vernichten, wenn er sich nochmals hier hinunter wagte, dann würde er es auch tun. Er sagte nichts. Er wartete einfach, was Zanrelot mit ihm tun würde.

„Du wagst es also tatsächlich, dich nochmal in die Unterwelt zu begeben?“, begann Zanrelot mit wutunterdrückter Stimme. „Und du bist sogar so dreist, den Wächtern zu helfen, meine Pläne zu durchkreuzen? Was bist du nur für ein undankbarer Bengel. Über 400 Jahre habe ich dich bei mir behalten, ehe ich dich weggeschickt habe. Und als ich dir tatsächlich angeboten hatte, wieder zurückzukommen, hast du abgelehnt. Jona sagte, du hättest sogar darüber gelacht.“

Matreus riss sich zusammen, um nicht aufzuspringen und Jona an den Hals zu springen. Sein Meister hatte ihm angeboten, zurückzukommen? Und ja, tatsächlich erinnerte er sich an eine solche Szene.

Wieder einmal hatte er an der kleinen Bucht gesessen, als Jona nach oben kam.
„Mein Vater lässt dir ausrichten, du könntest wieder nach unten kommen, wenn du Lust hast.“, sagte Jona ohne Umschweife und grinste ihn überheblich an.

Matreus sah ihn überrascht an. Doch als er das Grinsen im Gesicht seines Cousins sah, glaubte er ihm kein Wort. „Ja, sicher Jonathan. Und das soll ich dir glauben? Dass der Meister mich so einfach wieder aufnimmt? Nach der Geschichte, die du dort unten inszeniert hast? Nein Jona, du willst mich nur nach unten locken, damit der Meister es zu Ende bringt und ich dir endgültig aus dem Weg bin. Aber weißt du was? Das tut gar nicht Not. Ich bin dir nie im Weg gewesen. Ich habe dem Meister immer gehorcht und habe mich auch dir gebeugt. Aber das schien dir nicht genug.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein Jona, auf den Trick falle ich nicht hinein.“

Jona grinste immer noch breit. Er sah zufrieden aus. „Gut, dann werde ich Vater bestellen, dass du auf ihn pfeifst.“ Ohne, dass Matreus noch etwas darauf antworten konnte, drehte er sich zurück in die Unterwelt.

Erst jetzt begriff er, dass Zanrelot ihm tatsächlich dieses Angebot gemacht hatte. Doch Jona hatte ihn erfolgreich manipuliert. Was war nur aus seinem Cousin geworden? Noch vor einem Jahr war er Mentor der Wächter gewesen. Und nun tat er alles, um seinen Vater für sich allein zu haben. Vermutlich, um eines Tages selbst zu herrschen. Doch nun hatte er es endgültig geschafft. Zanrelot würde seinem Leben ein Ende bereiten und niemand würde mehr im Wege sein.

Anscheinend schien der Herrscher der Finsternis auf eine Antwort zu warten. Einen Moment überlegte der blonde junge Mann. Nein, mit Meister würde er ihn nicht weiter anreden. Er war nicht mehr sein Meister. Er wählte eine andere Anrede aus früherer Zeit, die ihm angemessener erschien.

„Herr, ich weiß was mir nun bevorsteht. Es gibt keine Entschuldigung. Ich kannte die Konsequenz. Ich möchte Euch nur um eines bitten: dass Ihr berücksichtigt, dass ich Euch lange Zeit loyal gedient habe. Ich bitte Euch, mir ein nicht allzu schmerzvolles Ende zu bereiten.“


16

Zanrelot sah zu seinem Neffen hinab. Erst jetzt, wo er ihn einige Monate nicht gesehen hatte, merkte er, welch starken Charakter dieser junge Mann hatte. Immer hatte er verhängte Strafen verbüßt, egal was es war. Niemals hatte er versucht, sich rauszureden oder zu betteln. Und selbst jetzt noch, wo er mit dem Schlimmsten rechnete, hielt er daran fest. Der Meister schüttelte leicht den Kopf. Er hatte das Gefühl, dass sich hier irgendwas hinter seinem Rücken abspielte, das er nicht erfassen konnte. Irgendwas zwischen Matreus und Jona. Doch das war nun irrelevant. Sie hatten alle ihre Entscheidungen getroffen. Und nun galt es, diese auch zu beherzigen.

Zanrelot hob die linke Hand über den Mann, der zu seinen Füßen kniete und wollte grade einen Zauber beginnen, als etwas Weißes in der Zentrale erschien.

„Halt“, sagte der Geist von Tante Hedda. „Matreus steht unter dem Schutz des Rates der alten Wächter!“

Belustig sah der Meister den Geist an. „Ach ja? Das glaube ich kaum. Denn dann wäre das hier wohl kaum möglich.“ Er hob wieder die Hand und murmelte ein paar Worte. Ein grüner Strahl ging kurzzeitig auf Matreus nieder. Er schrie auf vor Schmerz und krümmte sich auf dem Boden.

Betroffen sah Tante Hedda auf den am Boden liegenden Mann. „Der Rat der alten Wächter hat soeben beschlossen, Matreus zum neuen Mentor zu ernennen. Und somit steht er unter unserem Schutz.“, versuchte sie es nochmal.

„Das hätte sich der Rat vielleicht überlegen sollen, bevor er hier hinunter gekommen ist. Jetzt ist das wohl ein bisschen zu spät. Jetzt gehört er mir. Und nun verschwinde aus meinem Reich. Oder ...“ Er nickte mit dem Kopf auf seinen ehemaligen Diener, „... ich lasse es ihn büßen!“

Augenblicklich verschwand die Geistererscheinung. Er warf einen kurzen Blick auf seinen Sohn, der zufrieden grinste. Wieder hatte er das Gefühl, dass ihm irgendwas entging. Er schob den Gedanken beiseite. Er hatte jetzt anderes zu tun. Wieder hob er die Hand und wiederum traf ein grüner Strahl auf Matreus Körper. Ein paar Sekunden lang hielt er den Strahl aufrecht, dann beendete er den Zauber. Er spürte keine Genugtuung dabei, Matreus zu quälen. Doch er würde niemals Zweifel daran aufkommen lassen, dass er seine Versprechen und Worte hielt.

Er trat von der Plattform und beugte sich zu seinem Neffen hinunter. Matreus selbst bekam kaum mit, was um ihn herum passierte. Zu viel Schmerz musste er soeben ertragen, alsdass ihm seine Umwelt wichtig gewesen wäre. Er hoffte nur darauf, dass er ihn nicht allzu lange ertragen musste.

Doch dann hörte er eine leise Stimme, die ganz nah an seinem Ohr erklang. „Ich werde noch ein weiteres Mal Gnade vor Recht ergehen lassen.“, hörte er die Worte des Meisters. „Aber sollte ich dich noch mal hier unten erwischen, werde ich an genau dieser Stelle weitermachen.“

Matreus konnte kaum glauben, was er da vernahm. Sollte sein Meister ihn tatsächlich ein drittes Mal verschonen? Er würde gerne aufstehen, aber er konnte nicht. Sein ganzer Körper bestand nur aus Schmerz und ließ sich nicht kontrollieren. Er schaffte es grade so, ein schwaches „Danke“ herauszubringen.


17

Jona packte ihn unter den Armen, zog ihn hoch und drehte sich mit ihm nach oben. Sie kamen kurz vor der Scheune heraus und rücksichtslos ließ Jona ihn ins Gras fallen.

„Na, da hast du ja grade nochmal Glück gehabt! Bin zum nächsten Mal dann, COUSIN!“

Matreus ignorierte die spöttischen Worte und blieb einfach liegen, wo er war. Es war ihm egal, ob ihn jemand so sehen würde. Niemand konnte die höllischen Schmerzen, die er grade gespürt hatte, nachvollziehen. Erschöpft schloss er die Augen.

„Was? Matreus ist in die Unterwelt gegangen?“, schrie Leonie gerade in diesem Moment in der Scheune. Pinkas und Karo hatten versucht, das vor ihr geheim zu halten, bis sie sich ein wenig erholt hatte, aber irgendwann konnten sie nicht mehr erklären, wie sie die beiden befreit hatten, ohne dass Matreus Name fiel. Leonie fiel ins Stroh und fing an zu weinen. Ihre Schwester ging zu ihr und nahm sie fest in den Arm. „Leonie, kleine Leo.“

Eine Weile sagten sie nichts. Dann frage Leonie zwischen den Tränen: „Wie konntet ihr das zulassen? Zanrelot wird ...“ sie konnte es nicht aussprechen, aber alle wussten was sei meinte. Auch die anderen Wächter waren betroffen. Keiner wusste, was er sagen sollte. Schließlich stand Karo auf und zog ihre Schwester mit hoch. "Komm, wir gehen jetzt ins Haus hinüber. Erstmal stecke ich dich in die Badewanne und dann überlegen wir uns, was wir der Haushälterin erzählen, wo du die letzten drei Tage warst. Ein Glück, dass die Eltern im Urlaub sind.“

Leonie ließ sich widerwillig mitziehen. Mit tränenverhangenen Augen verließ sie die Scheune. Das helle Sonnenlicht blendete sie, nachdem sie so lange in der Dunkelheit der Unterwelt gewesen war. Sie blinzelte mehrmals. Doch was war das?

Ihr Herz klopfte vor Aufregung bis zum Hals, als sie ein Stück Richtung Haus rannte. Ja, tatsächlich, dort lag jemand im Gras!

„Matreus!“, rief sie erleichtert aus und kniete sich zu ihm auf den Boden. „Ich bin so froh!“ Sie sah, dass er Schmerzen hatte und würde ihm so gerne helfen. Aber sei wusste, dass ihr Handschuh bei Dämonen nicht half. Und da Matreus noch immer schwarze Magie in sich hatte, würde sei ihm damit mehr schaden als nutzen.

Der Angesprochene öffnete kurz die Augen und lächelte ein bisschen.

Jetzt kamen auch die anderen Wächter angelaufen. ‚Hui, der sieht aber übel aus!’, dachte Karo und unterdrückte ein Schaudern. „Sollen wir dir aufhelfen?", fragte sie zaghaft.

„Nein, ich bleibe lieber noch ein bisschen hier liegen“, antwortete er mühsam.

„Komm Leo, wir gehen hinein und holen ihm was zu trinken!“ Sagte Karo bestimmt. Sie wollte nicht, dass ihre kleine Schwester ihren Freund so sah. Vielleicht ging es ihm in ein paar Minuten schon besser. Sie zog Leo mit ins Haus und sorge dafür, sie beschäftigt zu halten.

Otti und Pinkas standen nur da. Schließlich ging Otti zur Scheune. Er musste mal ein ernstes Wort mit Tante Hedda reden. Er wusste nicht genau, warum der Rat Matreus als Mentor abgelehnt hatte, aber spätestens jetzt hatte er wohl bewiesen, dass er nicht mehr zu Zanrelot gehörte.

Pinkas war nun alleine mit dem noch immer im Gras liegenden Mann. Er zögerte zunächst, etwas zu sagen. Aber dann konnte er sich nicht mehr beherrschen. „Also, ich danke dir ja, dass du uns geholfen hast, Leo und Otti zu retten. Aber ich finde es schon komisch, dass du erst sagst, Zanrelot würde dich vernichten und er hat dich doch gehen lassen. Das passt so gar nicht zu ihm.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich traue dir immer noch nicht.“ Er drehte sich um und ging hinüber zum Haus.


18
Matreus sah Pinkas nach. ‚Wenigstens weiß ich bei ihm, woran ich bin’, dachte er. Trotzdem war er ein wenig enttäuscht. Wieder einmal hatte er alles gegeben und wieder bekam er dafür nicht die Anerkennung, die ihm zustand. Es war hier oben nicht anders als dort unten.

Als er sah, wie Karo und Leonie wieder aus dem Haus auf ihn zukamen, setzte er sich auf. Der Schmerz im Rest seines Körpers ließ langsam nach, aber seine Schulter schmerzte noch immer höllisch. Trotzdem wollte er stark sein und sich nicht gehen lassen. So biss er die Zähne zusammen.

„Hier, wir haben dir Saft mitgebracht. Und ein paar Brote.“, sagte Leo und reichte ihm ein Glas. Wieder war er gerührt über die Fürsorge seiner kleinen Freundin. Er nahm das Glas und trank es in einem Zug leer.
„Danke Leo. Das ist lieb von dir. Ich glaube, ich sollte dann mal...“ begann er, doch da erschien die Geistergestalt von Tante Hedda. Otti kam von der Scheune her gelaufen.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Zanrelot dich gehen lässt.“, sagte sie und wirkte dabei ein wenig bedrückt. „Der Rat hat beschlossen, dein Angebot anzunehmen. Wenn du noch willst, würde ich dich sofort zum Mentor ernennen.“

Die drei Wächter sehen ihn erwartungsvoll an. Leonie lehnte sich an seine verstauchte Schulter und er zog vor Schmerz scharf die Luft ein. Behutsam schob er sie weg. „Tut mir leid Leo, aber die Schulter tut ein bisschen weh.“

„Na also, ein Grund mehr, Mentor zu werden. Dann kann ich dich mit meinem Handschuh heilen!“, sagte sie und grinste ihn keck an.

Matreus musste trotz der Schmerzen lachen. „Na gut, das hat mich überzeugt. Also mein Angebot steht noch. Die Einzelheiten müssen wir dann nochmal festlegen. Wenn es mir etwas besser geht.“

Tante Hedda nickte. Sie schwebte ein bisschen näher heran und ließ einen Schimmer blauer Magie auf ihn niedergehen.

„Damit bist du erstmal ein wenig vor Zanrelot geschützt. Alles Weitere machen wir morgen, Oh.. Ich muss gehen.“ Wie so oft war ihre Geistermacht erschöpft und sie löste sich auf.

Leo strahlte ihn an. „Na also, jetzt hast du hier oben auch was. Du hast uns!“


ENDE



 

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