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Matreus
Das absolute Böse



Das absolut Böse




Nacktes Entsetzen spiegelte sich auf den Gesichtern aller vier Kinder, bei dem schrecklichen Anblick, der sich ihren Augen bot. Sie hatten ihn nicht gemocht, hatten erbittert gegen ihn gekämpft und er gegen sie. Aber nicht mit solchen Methoden! Das hier wünschte man seinem ärgsten Feind nicht. Außerdem war er nur ihr zweitärgster Feind. Der ärgste hatte das hier angerichtet.


"Wenn er so etwas mit seinem eigenen Verbündeten macht", überlegte Otti schaudernd, "was wird er dann erst mit der Menschheit anstellen?" "Und erst mit uns, seinen Feinden!" ergänzte Pinkas düster. Karo schlang ihre Arme fest um Leo, die wie gebannt hinstarren musste und trostlos weinte. Es war mindestens ebenso sehr für ihren eigenen Halt gedacht, wie für den ihrer kleinen Schwester. Der Mentor der vier Kinder stand wie erstarrt neben ihnen und murmelte mit blassen Lippen: "Er hat es geschafft. Zanrelot hat sich das absolute Böse angeeignet. Nun gnade Gott unserer Welt, wenn es ihn gibt!"


Die Welt hatte schon begonnen, sich zu verändern. Selbst der strahlende Sonnenschein wirkte nicht mehr freundlich. Er ließ das blonde Haar des Mannes glänzen, was das Schaurige des Anblicks nur erhöhte. Die Leiche, wie mit unsichtbaren Ketten an den Händen mitten in die leere Luft gehängt, drehte sich langsam im sanften Sommerwind hin und her. Nein, keine Leiche! Ein lebendes Wesen, zur totengleichen Unbeweglichkeit verdammt, nur noch die Augen in der Lage, von seinem namenlosen Entsetzen zu sprechen. Niemals in seinem langen und sicher nicht angenehmen Leben, hatte in Matreus' Blick derart viel Angst und Schmerz gelegen. Man versuchte besser nicht, sich vorzustellen, wie es in ihm aussah, wenn man nicht wahnsinnig werden wollte. Doch so viel war überdeutlich zu erkennen: Er durchlebte all dies bei vollem Bewusstsein. Ja, was auch immer ihn in diesen furchtbaren Zustand versetzt hatte, konnte nicht treffender beschrieben werden, als mit Jonas grauenerfüllten Worten: "das absolute Böse".


Leo schaffte es endlich, den Blick abzuwenden. "Das absolute Böse", flüsterte sie ängstlich, "was ist das, Jona?" Ihr Mentor sah sie traurig an. "Arme, kleine Leonie", sagte er sanft, "ein kleines Mädchen wie du sollte weder so etwas sehen müssen, noch wissen, was das absolute Böse ist. Doch du bist eine Wächterin, du hast ein Recht, es zu erfahren." Er ging vor ihr in die Hocke und blickte ihr tief in die Augen. "Es ist eine besondere magische Macht. Zanrelot hatte sie bisher nicht, auch wenn er euch noch so böse erschienen sein mag. Mein Vater, so schwer es mir fällt, das zuzugeben, hatte doch immer noch Gefühle und ein paar gute Seiten. Selbst sein Lehrer, der Abt, frei von Emotionen, kalt, berechnend, grausam, besaß einen klitzekleinen Rest von Menschlichkeit, ob er wollte oder nicht. Er war aber auf der Suche nach der Macht, die ihn von diesem letzten Hemmnis befreien sollte. Er wollte diese Kraft, die direkt aus dem Herzen der Hölle stammt, doch er konnte sie niemals erringen. So versetzte er sich selbst in einen tiefen Schlaf, aus dem er nur alle paar hundert Jahre erwacht, um es erneut zu versuchen. Denn er kennt kein anderes Ziel mehr. All seine Hoffnung liegt auf seinem Zögling, Zanrelot. Ich habe geglaubt, gehofft, mein Vater wäre nicht der Richtige für dieses Ziel. Zu weich trotz allem noch, zu anständig auf seine eigene Art. Doch nun hat er es offenbar geschafft: Er ist frei von jedem noch so kleinen Rest von Gutem, in der Lage zur absoluten Grausamkeit und Skrupellosigkeit und somit... zur absoluten Macht. Ihn fesselt kein Funke von Gewissen mehr."


"Dann ist alles verloren", sagte Otti tonlos. "Nein!" entgegnete Jona, entschlossen aufspringend, "nicht, solange ich es verhindern kann!" Im nächsten Moment wich seine Zuversicht wieder dem Zweifel in seinen Augen. "Ich muss es jedenfalls versuchen", murmelte er, "es ist meine Verantwortung. Ich bin sein Sohn. Dies ist mein Schicksal, und wenn es mich umbringt. Vielleicht bin ich nur dafür auf der Welt." "Nein, Jona!" wimmerte die kleinste Wächterin, "sag nicht sowas! Ich... wir... brauchen dich doch! Jona,... ich hab dich lieb." Er lächelte traurig. "Das weiß ich, kleine Freundin. Ich hab dich auch lieb. Aber gerade deshalb muss ich jetzt da runter." Sie wollte ihn zurückhalten, doch die anderen drei nickten ernst. Sie wussten, dass es ihre allerletzte Hoffnung war. Jona machte sich auf den Weg. "Wenn wir bis heute Abend nichts von dir hören, kommen wir nach!" rief Leo ihm schluchzend hinterher. Er drehte sich ein letztes Mal nach seinen Freunden um, vielleicht ein allerletztes Mal. "Nein, nicht so rasch", bat er, "nicht früher als nach drei Tagen. Ich brauche Zeit. Es wird nicht leicht."


Am ersten Tag kam die große Seuche über Lübeck. Erst wurden die Menschen krank, dann ihre Haustiere und ihr Vieh. Morgens schon lagen die Bürger der stolzen Hansestadt stöhnend und jammernd in ihren Betten, von Fieber und Schmerzen gequält. Der Anblick der Stadt war gespenstisch: kein Auto auf den Straßen und kein Mensch; niemand ging zur Arbeit, zur Schule oder einkaufen, jeder war krank. Die einzigen Gesunden in ganz Lübeck und Umgebung waren die vier Wächter. Ihre Eltern jedoch wurden nicht verschont. Sie hatten nur das Privileg, noch jemanden zu haben, der sie pflegen konnte. Bis Mittag lagen auch all die Katzen und Hunde, die Kühe und Schweine, Schafe und Pferde, um die sich niemand mehr kümmerte, halb verendet am Boden. Nachmittags verstummte das Vogelgezwitscher dieses trügerisch hellen, warmen Sommertages, und an der nahen Ostseeküste war die letzte Möwe vom Himmel gefallen. Dass bis zum Abend auch die Fische im Meer dahinsiechten, bekam keiner mehr mit. Niemand war mehr in der Lage, darauf zu achten.


Am zweiten Tag waren die Pflanzen an der Reihe. Die gesamte Vegetation war von Krankheit zersetzt. Mitten im Sommer fiel das Laub von den Bäumen. Es wurde nicht gelb, rot oder braun. Eben noch frisch und grün, rieselte es zu Boden, und bis es dort auftraf, war es pechschwarz. Alles Gras und Getreide verdorrte, alle Blumen verwelkten, selbst das Moos und die Flechten, oft die letzten Überlebenden in rauen Regionen, starben langsam dahin. Die Wächter, rund um die Uhr damit beschäftigt, ihre schwer kranken Eltern zu versorgen, warfen ab und zu einen bangen Blick auf dem Fenster. Der schöne Garten der Villa, von Tante Hedda einst mit Liebe angelegt und gepflegt, ihren Nachfahren als eine Art Paradies überlassen, war zu einer trostlosen Wüste geworden. "Wenn Jona es nicht bald schafft, wird alles tot sein", jammerte Leo. "Vielleicht ist Jona selber längst tot", meinte Pinkas düster. "Wir müssen runter!" drängte Karo, die langsam hysterisch wurde, "wir müssen nachsehen! Vielleicht braucht er Hilfe!" "Nein", bestimmte der besonnene Otti, "er hat ausdrücklich gesagt, erst nach drei Tagen. Er wird wissen, warum. Wenn er etwas ausrichten kann, dann würden wir ihm am Ende nur hineinpfuschen und alles vermasseln. Wenn nicht,... dann gibt es sowieso keine Hilfe mehr."


Am dritten Tag gingen in Lübeck die Lichter aus. Noch glommen die Lebenslichter der Menschen, Tiere und Pflanzen, wenn auch sehr schwach, doch es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sie von ihren Leiden erlöst würden. Da niemand mehr die technischen Anlagen gewartet hatte, versiegte nun der Strom in der Stadt. Keine Lampe brannte mehr. Und man hätte etwas Licht gebrauchen können, denn die Sonne wollte nicht mehr scheinen. Eine einzige, riesige, unnatürlich schwarze Wolke lag über dem ganzen Stadtgebiet und dem Umland, bis hin zum fernsten Ortsteil, Travemünde. Mit jeder Stunde wurde es dunkler, mitten am Tag, kälter, mitten Sommer, hoffnungsloser in den Herzen der Sterbenden und der letzten vier Gesunden. Gleichzeitig lösten sich die Grenzen zwischen Land und Meer auf. Der Sturm, den die finstere Wolke mit sich brachte, hatte die Ostsee immer weiter über ihre Ufer hinausgejagt. Sie fraß das Land, wie eine gierige Bestie. "Oh Gott!" keuchte Otti, "jetzt weiß ich, was er tut: Zanrelot macht die Schöpfungsgeschichte rückgängig, Stück für Stück! Aber er braucht nur drei Tage, keine sieben. Zerstören ist ja immer leichter, als etwas aufzubauen." Die anderen starrten ihn an. "Ich hasse Zanrelot!" schrie Karo verzweifelt. "Er ist der Teufel!" stieß Pinkas hasserüllt hervor. Leonie weinte nur still. "Ich weiß nicht, ob es einen Teufel gibt", flüsterte Otti schaudernd, "aber selbst wenn, dann kann er nicht so schrecklich böse sein, wie Zanrelot jetzt ist. Denn immerhin konnte er bisher die Welt nicht zerstören. Zanrelot schafft das in drei Tagen."


Karo packte Otti und zerrte an ihm, wie eine Wahnsinnige. "Wir müssen runter!" schrie sie schrill, "wir müssen endlich da runter!" Otti riss sich mühsam los und meinte: "Ja, die drei Tage sind um, seit fünf Minuten, um genau zu sein. Lasst uns gehen!" "Ich mach ihn fertig!" schwor Pinkas auf dem Weg zur Schleuse, "ich mache Zanrelot platt! Wenn dieser Verbrecher das absolute Böse will, das kann er kriegen, von mir!" Die extreme Situation hatte das Typische jedes Wächters noch deutlicher hervorgekehrt: Der ruhige Otti wirkte regelrecht kalt, der hitzige Pinkas nur noch absolut hasserfüllt, die temperamentvolle Karo wie eine Geisteskranke und Leo, die Wächterin mit dem wärmsten Herzen, war nur noch ganz Sorge: um die Eltern, die Welt, um Jona. "Wo bist du nur?" wisperte sie unentwegt, als sie die Unterwelt betreten hatten, "lieber Jona, wo bist du? Sag, dass du noch lebst! Sag, dass du noch helfen kannst! Ach, Jona!" Alles, was ihr blieb, war ihr Vertrauen in ihn. Es half ihr vorwärts. Und wirklich, als hätte nur sie es finden können, dank einer speziellen Magie der Verbundenheit, entdeckte sie den ersten Hinweis auf Jona! Es war ein Zettel, er hing an einer Wand nahe dem Podest. Doch er war unsichtbar, so lange, bis ein Wächter ihn fand. Leonies Blick fiel auf die richtige Stelle, und der Zettel wuchs vor ihren Augen aus dem Nichts. Es war ein Pfeil darauf und die Worte: "Hier entlang! Verzweifelt nicht! Euer Jona".


Von neuer Hoffnung ergriffen, mit neuem Mut gestärkt, schlichen die Kinder weiter, in der angegebenen Richtung. Ihr Weg führte sie in eine Gegend der Unterwelt, die sie noch nie betreten hatten. Mitten hinein in das Labyrinth. Wenig später fanden sie einen weiteren Zettel. Der Pfeil wies sie an, um eine dunkle Ecke zu biegen. Wieder hatte Jona nicht versäumt, auch einen kleinen Mutmacher zu hinterlassen: "Ihr schafft es! Ich zähle auf euch!"


Sie gingen immer weiter, immer tiefer hinein ins Herz der Finsternis, nur ermuntert durch Jonas tröstliche Notizen und von seinen Pfeilen wieder und wieder durch verschlungene Windungen gelotst. Leo schniefte laut, als sie an einer Biegung las: "Es wird immer schwerer, doch ich gebe nicht auf. Ich habe euch lieb! Euer Jona". Was mochte ihm auf seiner Mission alles zugestoßen sein? Lebte er noch? Wo war er? "Halte durch!" flüsterte Leo, als könne sie ihrerseits ihm Mut machen, "halte durch!"


Um so viele Ecken gingen sie, sie konnten längst nicht mehr sagen, in welche Richtung. Es war wie beim Topfschlagen, früher an ihren Kindergeburtstagen, als die Welt noch heil war: Wenn man oft genug gedreht wurde, verlor man jeden Orientierungssinn. Plötzlich standen sie vor einer Tür, die ihnen sehr bekannt vorkam. "Die Zentrale!" rief Otti ungläubig aus, "aber wie kann das sein?" "Wir sind die ganze Zeit im Kreis gelaufen?" stöhnte Pinkas entgeistert. Aber der Pfeil auf dem Zettel wies unmissverständlich auf diese Tür. Beherzt entriss Karo Pinkas seinen Löser und öffnete damit die Tür. Ihnen bot sich ein entsetzlicher Anblick. "ZANRELOT!" schrie Karo. "Oh, Jona!" schluchzte Leo voll Entsetzen. Sie konnte ihren Blick nicht abwenden von dem Mann auf dem düster-prunkvollen Thron und der reglos in der Luft baumelnden Gestalt.


Finster blickte der grausame Herrscher von seinem erhöhten Thron auf die vier Kinder herunter. "Willkommen!" begrüßte er sie mit höhnischer Freundlichkeit und begann zu lächeln, doch es war das kalte Lächeln einer Schlange. "Was führt euch her, ihr letzten Lübecker? Sucht ihr das absolute Böse? Es ist hier." Er strich lässig einen Fussel von seinem weiten, schwarzen Mantel. "Doch ihr kommt zu spät. Das Elixier des Bösen ist gefunden - und getrunken! Die Welt ist mein." Er folgte Leos Blick zu seinem Opfer, das von den unsichtbaren Ketten gehalten wurde, ebenso wie Matreus in der Oberwelt, und in dessen Augen dasselbe namenlose Entsetzen geschrieben stand. "Ohhh, kleine Leonie, Mitleid? Bedauert nicht ihn, bedauert euch! Denn in diesem Augenblick sind eure Eltern schon tot, ist eure kleine Welt schon zerstört. Nicht die große, noch nicht, aber doch Lübeck." Er stand auf, trat zu dem regungslos Hängenden und versetzte ihm einen Stupser, dass er hin und her baumelte. "Das absolute Böse", sagte er, "kennt nichts, auch keine Familienbande. Nur Macht!"


Die Wächter fuhren herum, als sie das Geräusch der sich schließenden Tür vernahmen. Nun waren sie hier eingesperrt, mit dem Wahnsinnigen und der lebenden Leiche. "Jona!" schluchzte Leo. "Ooooh!" machte der neue Herr über Lübeck wieder spöttisch, "so enttäuscht? So ist das Leben, kleine Wächterin, mach dir nichts draus! Es gibt eben Sieger und Verlierer, nun ja, genau genommen kann es nur einen Sieger geben. Der Narr wollte den Sieg teilen, was für ein Fehler! Er war ein nützlicher Idiot, beinahe wie Matreus. Nur er konnte das Elixier des absoluten Bösen beschaffen. Aber trinken, trinken konnte es nur ich! Es hätte bei ihm seine wundervolle Wirkung nicht entfalten können, dafür war zuviel Gutes in ihm. Welch eine Vergeudung! Das musste ich verhindern. Denn nur wenn der Same des Bösen in ein genügend verdorbenes Herz fällt, kann er gedeihen. Sein Dünger heißt Falschheit, Lüge, Verrat!"


"Ich danke euch immerhin für die vergnügliche Schnitzeljagd", fuhr er leutselig fort, "ich hatte lange nicht mehr so viel Spaß. Aber nun ist das Spiel aus. So, wie für Lübeck und so, wie für ihn." Erneut versetzte er dem scheinbar Leblosen einen Stoß. Ohnmächtige Wut und grenzenlose Verzweiflung sprachen aus den Augen seines wehrlosen Opfers. Sie glühten grellgrün auf, in hilflosem Zorn. Unbeschreibliches Grauen erfüllte die vier Wächter, als sie spürten, wie ihre Arme an unsichtbaren Fesseln hochgezogen wurden, ihre Füße vom Boden abhoben und ihre Körper erstarrten. Jona lachte höhnisch und setzte sich wieder auf den Thron. Absoluter Herrscher über eine sterbende Welt.


Surviving Christmas
Für eine Flasche voll Zeit
Unter der Oberfläche
Der neue Wächter
Das absolute Böse
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© Stefanie Jaschek