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Matreus
Der neue Wächter





Der neue Wächter


Otti, Pinkas, Karo und Leo schlangen ihre Nutella-Brote hastig hinunter, denn Julias Einwand, dass sie eigentlich schon längst auf dem Weg zur Schule sein müssten, war nicht unberechtigt. Schnell steckte Leo ihrem unsichtbaren Freund Kasimir den Rest ihres Toasts zu und sprang als Erste auf. Die anderen würgten die letzten Bissen hinunter und folgten ihr zur Tür hinaus. „Na, mal wieder auf den letzten Drücker?“ fragte Sascha, der im Hof stand und an seiner neuesten Erfindung herumschraubte, dem ferngesteuerten Rasenmäher-Batterie-Wechsler. „Kommt, ich fahre euch hin“, bot er großzügig an, da er ohnehin dringend eine Denkpause brauchte, ließ alles stehen und liegen und setzte sich mit den vier Kindern ins Cabrio.

„Mach dich nicht so breit!“ nörgelte Pinkas Karo an. „Hey, bist du mal wieder charmant!“ nölte sie zurück und rückte nun gerade kein Stück zur Seite. Es war also ein ganz gewöhnlicher Morgen.


Leo, die zuerst ausstieg, kam als Einzige noch pünktlich in die Schule. Pinkas und Karo waren ein paar Minuten zu spät, doch sie hatten Glück: Die Lehrerin war noch unpünktlicher als sie. Otti jedoch rasselte volle Kanne verspätet in den laufenden Unterricht hinein, was erneut seine fatalistische Ansicht bestätigte, dass er sich immer wieder zum Affen machte.


„Ottokar Sörensen!“ ergoss sich der Hohn des Lehrers über ihn, sobald er zur Tür herein kam, „wie nett, dass du uns auch noch beehrst!“ Wie immer prusteten seine Klassenkameraden bei der Nennung seines vollen Namens. Und das Allertollste war, dass er sich nicht einmal setzen konnte, weil sein angestammter Stuhl bereits besetzt war! Ein Junge hockte darauf, den er nicht kannte. Na toll! Er warf dem Fremden einen vernichtenden Blick zu und schaute sich nach einem anderen Platz um. Doch der Neue grinste ihn freundlich an und rutschte ein Stück beiseite. „He, da hinten ist noch ein leerer Stuhl, hol ihn dir und rutsch rüber!“ bot er an. Halbwegs versöhnt, ließ Otti sich neben ihm nieder und unterzog ihn einer näheren Inspektion. Ziemlich cooler Typ eigentlich, schwarze Haare, schwarze Klamotten. „Emo?“ flüsterte Otti zu ihm rüber. „Sicher doch“, bestätigte er.


Otti war sich bisher nicht so sicher gewesen, was er von Emos halten sollte. Gefühlsduselige Typen, die in Schwarz rumliefen und sich angeblich dauernd die Arme ritzten. Aber an den Armen des Neuen konnte er keine Verletzung entdecken, nur ein paar schwarze und grüne Armbänder, diese In-Sorte aus Gummi, mit Aufschriften wie „love“, „pride“ usw. Und der Typi sah auch nicht wie eine Heulsuse aus. Möglicherweise war er ganz in Ordnung und falls ein Emo in der Klasse die Lehrer schocken würde, dann verschaffte es dem Kerl in Ottis Augen zusätzliche Sympathiepunkte.


„Herr Sörensen und Herr Urs!“ giftete die Stimme des Lehrers erneut los, „hätten Sie beide dann irgendwann auch die Güte, dem Unterricht Ihre geschätzte Aufmerksamkeit zuzuwenden?“ Die Jungen senkten ihre Köpfe über die Bücher, flüsterten aber ganz leise weiter. „Urs?“ „Mein Nachname“, erklärte der Neue mit einem beinahe entschuldigenden Achselzucken, „mein Vater ist Schweizer.“ „Ist doch cool“, meinte Otti, „Urs ist lateinisch und heißt Bär.“ „Stimmt. Streber?“ Otti lachte leise: „Ja, glaub schon.“ Der andere grinste gutmütig zurück. „Und du heißt Ottokar Sörensen“, erinnerte er sich. Otti verdrehte die Augen. „Bitte bloß nicht Ottokar!“ flehte er, „Otti, okay?“ „Alles klar, Otti.“ „Danke, äh,... hast du auch einen Vornamen?“ „Ja. Zarko. Meine Mutter ist Kroatin. Multikultifamilie halt, ne?“ „Verstehe. Und ich lebe in einer Patchworkfamilie.“ „Na, passt doch.“


In der Reihe vor ihnen saß Mieke Peddersen, die Otti nicht verzeihen konnte, dass er schon mit jedem Mädchen aus der Klasse geflirtet hatte, nur nicht mit ihr. Ob sie Zarko nun eins auswischen wollte, weil er sich mit Otti anzufreunden schien, oder ob es ihre eigenwillige Art war, die Aufmerksamkeit eines Jungen auf sich zu lenken, jedenfalls hielt sie es für nötig, ihn zu ärgern. „He, Zarko“, stichelte sie, „was bist du denn nun, ein Schweizer Käse oder ein Jugo-Assi? Ist auch egal, wir brauchen hier in Lübeck keine Ausländer wie dich!“ Otti hielt die Luft an. Mieke war noch nie die Netteste gewesen und die Hübscheste war sie auch nicht. Aber in die rechte Szene hätte er sie bisher nicht eingeordnet. War sie wirklich so eine oder sagte sie das nur, um möglichst gemein zu dem Neuen zu sein? Es wäre ihm nicht zu verdenken gewesen, wenn er in die Luft oder ihr an die Gurgel gegangen wäre. Doch er schien kein rachsüchtiger Typ zu sein. Er erwiderte nur sehr gelassen: „Die alte Handels- und Hansestadt Lübeck wäre ohne Ausländer nie sehr weit gekommen, fürchte ich.“ Darauf fiel ihr nichts mehr ein. Kunststück, Geschichte war nicht ihre Stärke.


Der Disput hatte die Aufmerksamkeit des Lehrers geweckt. Diesmal ergoss sich sein Zorn allerdings nicht über Otti und Zarko, sondern allein über Mieke, den berüchtigten Lehrer- und Mitschülerschreck: „Fräulein Peddersen, den Spruch eben habe ich gehört! Das war ja wohl das Allerletzte! Das hätte ich nicht einmal von dir erwartet, Mieke. Erstens dulde ich keine ausländerfeindliche Propaganda an dieser Schule und zweitens solltest du gerade deinem neuen Mitschüler gegenüber Rücksicht nehmen. Er und seine Familie haben viel durchgemacht. In Kroatien gab es vor nicht allzu langer Zeit noch Krieg, falls du dich erinnerst. Ach nein, Geschichte ist ja nicht dein Fach.“ Mieke warf einen finsteren Blick nach hinten, sagte aber nichts mehr.


„Ist das wahr?“ flüsterte Otti seinem Sitznachbarn zu, „ich meine, das mit eurem harten Los im Krieg und so?“ „Klar“, meinte Zarko, „meine Mutter ist damals als Flüchtling in die Schweiz gekommen. Da hat sie dann meinen Vater kennengelernt. Woraus man schließen kann, dass ich den Krieg und das Elend nie kennengelernt habe, sondern in der Schweiz zur Welt kam, als Sohn eines wohlhabenden Bankers. Aber das muss weder die Tussi vor uns, noch der Pauker wissen, und sie sind auch beide nicht so schlau, das nachzurechnen.“


Laut sagte er etwas anderes: „Ja, danke, Sie haben recht, es war ganz furchtbar damals.“ Unversehens brach er vor der ganzen Klasse in Tränen aus. Die Mitschüler sahen ihn ziemlich verstört an. „Typisch Emo“, murmelte einer, „ich sag doch: Heulsusen!“ Ein Mädchen widersprach ihm empört: „Mensch, halt die Klappe! Du kannst dir doch gar nicht vorstellen, was so einer durchgemacht hat.“ Am hilflosesten von allen reagierte der Lehrer: „Tja, äh... Ich glaube, die Situation ist etwas aus dem Ruder gelaufen und wir... wir brauchen jetzt erst einmal alle etwas Zeit, darüber nachzudenken. Ich beende die Unterrichtsstunde, da sich jetzt sowieso keiner konzentrieren kann. Ihr dürft den Rest der Stunde auf dem Pausenhof verbringen und euch mit eurem neuen Mitschüler bekannt machen, ja?“ Reichlich überstürzt verließ er den Klassenraum.


„Heulsuse!“ wiederholte der Junge von vorhin laut, sobald der Lehrer außer Hörweite war. „Emo-Weichei!“ kreischte Mieke Peddersen. Doch was war das? Zarko weinte ja gar nicht mehr. Von einer Sekunde auf die andere hatte er seine Tränen getrocknet und grinste breit. „Was geht’n jetzt ab?“ fragte einer, „wieso heulst’n nicht mehr?“ „Warum sollte ich?“ fragte Zarko locker zurück, „findest du es denn zum Heulen, dass die Stunde ausfällt?“


Es dauerte ein paar Minuten, bis auch der Letzte begriffen hatte, dass alles nur Show gewesen war und dass sie Zarko eine unverhoffte Freistunde zu verdanken hatten. Doch dann hatten Miesmacher wie Mieke und Konsorten keine Chance mehr. Das Eis war gebrochen und der Neue herzlich in der Klasse aufgenommen worden. „Tja“, meinte er lässig, „das sagen wir Emos doch immer: Es hat Vorteile, seine Gefühle sehr offen zeigen zu können!“


Eine Tür flog auf. Ein Junge und ein Mädchen stürmten heraus auf den Hof. „Pinkas Sörensen!“ schrie das Mädchen, welches offenbar den Jungen verfolgte, „das ist doch wohl echt nicht wahr!“ „Ist es doch!“ brüllte der Junge zurück und rannte weiter. Sein Kopf war hochrot vor Wut und vom schnellen Laufen. „Das kannst du nicht tun!“ kreischte das Mädchen, ganz außer sich. „Du wirst noch sehen, was ich alles kann!“ schrie der Junge zurück, „es ist mein Leben! Wird Zeit, dass du das kapierst! Dass ihr alle das kapiert!“


„Ähm“, fragte Zarko vorsichtig seinen neuen Freund, „Sörensen? Seid ihr verwandt?“ „Mein Bruder“, seufzte Otti. „Verstehe. Und das Mädchen? Eure Schwester?“ „Nein. Wir leben zusammen in einer Art Wohngemeinschaft. Mein Bruder und ich, ihre Schwester und sie. Und dann noch mein Vater und die Mutter von den Mädchen. Kompliziert, was?“ „Nö, cool.“


Inzwischen war eine Lehrerin aus der offenen Tür getreten. „Karo, komm sofort zurück!“ schrie sie, „und du auch, Pinkas! Nur weil du diesen Brief bekommen hast, darfst du doch nicht einfach aus dem Unterricht abhauen! Marsch, rein mit euch und auf eure Plätze! Das ist doch nicht zu fassen.“ 


„Ja, also“, meinte Otti verlegen zu Zarko, nachdem Karo und Pinkas zeternd wieder in der Schule verschwunden waren, „wenn du meine komische Familie immer noch cool findest, kannst du uns gern heut nachmittag besuchen kommen.“ „Gern, ja! Ich kenne hier ja noch nicht viele.“ „Tröste dich“, entgegnete Otti mit einem halben Lächeln, „ich hab auch nicht allzu viele Freunde. Und ich glaube, dir wird es leichter fallen, welche zu finden, als mir.“ Zarko zwinkerte ihm zu: „Einen hab ich ja schließlich schon gefunden, ne?“

 

Wie verabredet, kam Zarko am Nachmittag hinaus zum alten Sörensen-Anwesen. Da schönes Wetter war, hockten die beiden sich im großen Garten mitten ins Gras und tranken Limo. Als sie gerade ganz gemütlich am Quatschen waren, ging die Zeterei wieder los. Karo und Pinkas! Sie waren eben aus dem Haus getreten und wahrscheinlich hatten sie ihren Streit seit heute Vormittag nicht einmal unterbrochen. Nur rannten und schrien sie jetzt nicht mehr, aber sie waren immer noch laut genug, dass man jedes Wort verstehen konnte. „Pinkas“, sagte Karo verzweifelt, „du kannst uns nicht wirklich im Stich lassen, wir brauchen dich doch!“ „Ach ja?“ fauchte er, „ihr braucht mich! Diese Stadt braucht mich! Sonst noch wer? Schon mal drüber nachgedacht, was ich vielleicht brauche? Was ich will? Das ist dir doch scheißegal, stimmt’s? Und ich hab mal gedacht, du würdest mich mögen!“ Karo wurde rot und stammelte: „Ich... das tu ich doch auch, Pinkas! Ich... ich mag dich.“ Er schaute sie zweifelnd an. „Na, wenn das wahr ist, wirst du ja wohl dieses halbe Jahr auf mich warten“, meinte er, „ich komme schließlich wieder.“ „Wohin? Nach Lübeck?“ „Ja, verdammt!“ Karo lachte freudlos auf: „Falls diese Stadt dann noch steht, Pinkas...“ Er schnaubte unwillig.

Leonie war aus dem Haus gekommen, um nach den beiden zu sehen. Als Karo sie erblickte, rief sie: „Komm, Leo, wir müssen was besprechen, alle vier!“ Sie schaute herüber zu Otti: „Du auch!“ Mit einem Blick auf Zarko fügte sie hinzu: „Unter acht Augen.“ Otti sah seinen neuen Freund entschuldigend an. „Schon in Ordnung“, sagte der gleich, „geh nur, ich warte hier. Macht mir nichts aus.“ „Danke! Bist ein echter Kumpel. Ich beeil mich.“

Die vier Wächter verschwanden zusammen in der Scheune. „Was ist eigentlich los?“ fragte Otti genervt. „Pinkas will uns verlassen!“ berichtete Karo aufgeregt. „Was?“ quiekte Leo entsetzt. „Wieso das denn?“ fragte Otti verständnislos. „Deswegen!“ sagte Pinkas, zog einen Umschlag aus der Tasche und wedelte seinem Bruder damit vor der Nase herum. „Aha, und was ist das?“ „Meine Zukunft!“ rief Pinkas euphorisch aus, „Mann, das ist der Start meiner Filmkarriere, ist euch das klar? Ich soll in einer Kinderserie mitspielen!“ „Ja“, ergänzte Karo ohne jede Begeisterung, „in den Bavaria Filmstudios, in München, ein halbes Jahr lang.“ „Ist doch super!“ meinte Leo spontan. Doch Otti hatte die Lage begriffen: „Super für Pinkas. Super für München. Pech für Lübeck. Ein halbes Jahr lang ohne vier Wächter? Unmöglich. Pinkas, Karo hat recht. Wenn du zurückkommst, steht diese Stadt nicht mehr. Oder du erkennst sie jedenfalls nicht wieder und wir haben dann eine hübsche, sehr moderne Wohnung im neu erbauten, zanrelotischen Lübeck. Alles im grünen Bereich. Im giftgrünen, wenn du verstehst!“

„Oh nein!“ jammerte Leo, „das darf nicht geschehen! Pinkas!“ Sie zupfte heftig an seinem Ärmel, doch er riss sich los und hielt sich die Ohren zu. Hilfesuchend blickte die jüngste Wächterin Karo und Otti an. „Der Wächterspruch“, bat sie, „wir müssen den Wächterspruch sagen.“ „Ja“, überlegte Otti, „vielleicht bringt ihn das zur Vernunft.“ Er zog Pinkas die Hände von den Ohren weg und forderte ihn auf: „Sag den Wächterspruch mit uns auf, bitte!“ „Nur noch einmal!“ bettelte die kleine Leonie. „Oh Mann“, stöhnte Pinkas, „euch zuliebe, ein letztes Mal. Aber glaubt nicht, dass das irgendetwas ändern wird!“

Die vier Wächter fassten sich an den Händen und sprachen ihre magische Formel. Drei von ihnen sagten den Spruch heute ganz besonders laut und mit Inbrunst auf, der vierte nur leise dahingemurmelt:

 

„Gegen Dunkelheit und Neid,

für Frieden und Gerechtigkeit,

so kämpft das magische Quartett,

denn das sind wir: 4 gegen Z!“

 

Anschließend hefteten sich drei Augenpaare hoffnungsvoll auf Pinkas, doch der zog sich aus dem Kreis zurück und sagte: „Das war’s jetzt mit dem Wächterkram. Tut mir leid, Leute, aber für mich beginnt ein anderes Leben.“ Ohne sie nochmal anzusehen, verließ er die Scheune und ging ins Haus.

 

 

Niedergeschlagen kehrte Otti zu Zarko auf die Wiese zurück. Der sah ihn verständnisvoll an: „Zoff?“ „M-hm.“ „Darf man fragen oder lieber nicht?“ „Ach...“ Zarko bohrte nicht weiter und Otti war ihm dankbar dafür. Schweigend zogen sie eine Weile an ihren Strohhalmen. Irgendwann fragte Zarko: „Sagt mal, was habt ihr vier eigentlich gegen mich?“ Otti verschluckte sich an seiner Limo und sah ihn mit großen Augen an: „Wir? Aber... Wieso sollten wir denn was gegen dich haben? Ich hab dich eingeladen und die andern kennen dich noch gar nicht.“ „Eben. Also, warum?“ „Du machst Witze, Mann! Wie kommst du denn auf sowas?“ Zarko setzte einen sehr dramatischen Gesichtsausdruck auf, als wollte er gleich wieder anfangen zu heulen. Emos... Aber vielleicht machte er wirklich Witze? So wie in der Schule? Otti kannte ihn nicht gut genug, um sich sicher zu sein.

Zarko guckte nun so finster, dass es eigentlich nur Show sein konnte, aber seine Stimme klang sehr ernsthaft und kein Zwinkern verriet ihn, als er sagte: „Ich hab euch gehört. In der Scheune.“ Otti erschrak. Wie viel hatte er gehört? Hoffentlich hatte er nichts von der ganzen Wächtersache mitgekriegt! „Dieser Spuch“, erklärte Zarko, „ich hab ihn gehört. Diesen Reim.“ Den also. Nur den? Sie hatten ihn tatsächlich sehr laut ausgesprochen.

„4 gegen Z“, sagte Zarko, „das habt ihr herausgeschrieen. Nicht sehr nett.“ „Äh... wieso...?“ „Z! Ich kenne weit und breit nur einen Z und das bin ich. Und dann noch vier gegen einen, das klingt nicht grad sehr nach Frieden und Gerechtigkeit.“ Otti brauchte einen Moment, um den Vorwurf zu begreifen. Dann lachte er, halb erleichtert, halb verlegen: „Ach so... Du hast wirklich geglaubt...? He, damit warst doch nicht du gemeint, Zarko!“ „Nööö“, erwiderte der ironisch, „natürlich nicht! Weil es ja auch so viele Leute mit ‚Z’ gibt, ne?“ „Äh, j... ja! Gibt es!“ „Sicher. In Kroatien vielleicht, ja: Zarko, Zoran, Zeno, Zlatko, Zivorad, jede Menge. Aber hier nicht!“

Otti wand sich. Er durfte nicht zu viel verraten. „Doch“, druckste er herum, „es gibt schon noch... einen hier.“ „Ah, und wie heißt der?“ „Äh, Z. Einfach nur Z.“ Nicht sehr überzeugend... Otti wäre am liebsten im Boden versunken. Doch plötzlich lachte Zarko laut auf. Otti schaute ihn verwundert an. Der lachte wirklich! Nicht irgendwie verzweifelt oder wahnsinnig, auch nicht spöttisch oder böse, nein, einfach so. „Mann, Mann, Otti, lass mal gut sein!“ rief er aus, „aber eins musst du zugeben: Mein Ablenkungsmanöver hat doch gut funktioniert, ne?“

Otti starrte ihn fassungslos an. „Das war alles nur....?“ „Um dich auf andere Gedanken zu bringen, ja. Ist mir doch egal, was ihr da für ´nen Spuch habt. Bandengeheimnis?“ „Äh, ja, sowas in der Art.“ Otti grinste erleichtert. Doch im nächsten Moment verdüsterte sich sein Gesicht wieder. Die ‚Bande’ gab es ja nun nicht mehr... Was sollte nur werden?


Zarko beobachtete Ottis Mienenspiel aufmerksam. „Puh, echter Trouble, was?” fragte er. Otti nickte beklommen. „Wenn ich irgendwie helfen kann...“ „Nein, leider nicht. Aber danke.“ Sie lächelten sich kurz zu und schwiegen wieder.

„Tja, also“, meinte Zarko irgendwann, „vielleicht sollte ich dann mal gehen. Du hast heute andere Sorgen.“ „Nein, nein!“ rief Otti hastig, „tut mir leid, dass ich momentan nicht so gut drauf bin. Aber ich würde mich freuen, wenn du noch bleibst. Wir könnten, hm... Was könnten wir denn machen?“ „Ich mag Computerspiele. Hast du welche? Die lenken auch gut ab.“ „Ich hab nicht viele, aber Pinkas könnte uns ein paar...“ Mist, Pinkas! An den hatte er gerade gar nicht denken wollen und von dem wollte er jetzt auch ganz bestimmt nichts leihen.

„Da kommt noch einer“, unterbrach ihn Zarko, „hast du den auch eingeladen?“ „Was? Wo? Wer? Nein, hab ich nicht... Ach, du Scheiße!“ „Was ist denn? Der Typ sieht ganz nett aus. Etwas älter als wir, aber macht doch nichts. Oder hast du Ärger mit dem?“ „Kann man so sagen.“ „Was ist das für einer? So ein Typ, der auf Kleinere losgeht? Schade, sah gar nicht gewalttätig aus, aber man kann sich ja täuschen. Weißt du seinen Namen?“ „Ja... Matreus...“ „Hey, du bist ganz blass geworden, Otti, Mann! Muss ja voll krass sein!“ „J.. ja, ist er. Voll krass der Typ... Oh, ja.“ Zarko stand entschlossen auf und krempelte die Ärmel hoch. Otti sprang entsetzt auf die Füße. „Zarko, nicht! Um Himmels willen, bleib weg von ihm! Er ist...“ „Was ist er? Stärker als ich?“ „Ja. Genau.“ ‚In mehr als nur im körperlichen Sinne stärker als du’, dachte Otti, doch das konnte er nicht sagen.

„Ich sehe den Größenunterschied“, sagte Zarko, „na und? Mit den meisten Leuten kann man vernünftig reden.“ Otti raufte sich die Haare. „Nicht mit dem da!“ rief er verzweifelt, „Zarko, komm zurück! Matreus ist nicht gerade... ein Emo!“ Doch wenn sein neuer Freund sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er offenbar nicht leicht davon abzubringen. Stur wie... wie... Pinkas, oh Mann!

„He!“ rief Zarko laut, „du da! Matreus!“ Der junge Mann in der schwarzen Lederjacke fuhr herum. „Hallo, Matreus“, sagte Zarko ruhig, „nett, dass du vorbeischaust, aber Otti hier und ich wollten gerade etwas unter uns bereden, weißt du? Es passt heute einfach nicht so gut, er hat andere Sorgen.“ Matreus starrte den Jungen an. Otti biss sich auf die Lippe. Gleich würde ein fieser, grüner Lichtstrahl seinen neuen Freund treffen, und spätestens dann würde er sich ernsthaft fragen, was hier vorging, - wenn er dazu noch in der Lage war. Matreus hob seinen Zauberstab...


... und ließ ihn achselzuckend in die Jackentasche gleiten. „Tja, dann ein andermal“, meinte er nur – und ging. „Siehst du“, sagte Zarko, „mit den meisten Leuten kann man echt vernünftig reden.“ Ottis Mund stand immer noch offen. „Man muss sich nur nicht immer gleich aufregen“, fuhr Zarko ruhig fort, „oder sich für jeden Kram rächen wollen. Das nimmt sonst ja nie ein Ende.“ Otti nickte wie in Trance. „Äh, ja... ja... Gute Einstellung, echt cool... Du sag mal...“ „Ja?“ „Ich hätte da ´nen Job für dich, glaub ich...“ „Lass hören, Alter!“

Oh, hätte er doch bloß den Mund gehalten! Jetzt wollte Zarko natürlich wissen, worum es ging. Aber das war doch Wahnsinn! Er konnte ihm doch nicht von Zanrelot und den Wächtern, von magischen Lösern und einer Schleuse zur Unterwelt erzählen! Bestenfalls würde er nur seinen neuen Freund verlieren. Vielleicht aber auch schon die nächste Nacht in der Klappse verbringen!

Andererseits, waren Emos nicht empfänglich für alles Romantische, Düstere und Geheimnisvolle? Standen die nicht auf Gefühl und Fantasie? Vielleicht würde er ihn wenigstens anhören, bevor er ihn auslachte... Es war ohnehin zu spät für einen Rückzieher und auf der anderen Seite war da diese klitzekleine, wahnwitzige Hoffnung, er könnte ihnen helfen... „Ähm, Zarko, was ich dich mal fragen wollte... Stehst du auf Mystery und so?“ „Mystery? Klar, cool! Es gibt super Computerspiele in dem Bereich.“ Otti tastete sich vorsichtig weiter vor: „Auch Magie und sowas?“ „Sicher! He, ich hab alle Bände ‚Harry Potter’ gelesen.“ Otti lächelte unsicher. „Oh,... ja,... cool. Glaubst du, sowas könnte auch... real sein?“ Zarko schaute ihn belustigt an. „Real? Sowas wie Lord Voldemort?“ „Ja, zum Beispiel.“ Oh Mann, er kam sich so bescheuert vor. „Zarko, könntest du dir vorstellen,... sagen wir mal,... nur als Beispiel,... gegen Lord Voldemort zu kämpfen?“ Zarko schaute ihn ungläubig an. „Du meinst... He, habt ihr ein Rollenspiel oder sowas?“ Ottis Gesicht leuchtete auf. Guter Vergleich! So konnte man ihn vielleicht an die Sache heranführen. „Genau! Ein Rollenspiel! Aber wir nehmen es ziemlich ernst, musst du wissen. Und einer unserer wichtigsten Mitspieler ist heute ausgestiegen. Wir brauchen Ersatz.“ Zarko lachte: „He, cool! Warum sagst du das nicht gleich, ey? Ich bin dabei! Wer fehlt euch denn? Der Dunkle Lord persönlich?“ „Nee“, seufzte Otti, „der fehlt leider nicht. Das ist der mit Z, weißte, Zanrelot heißt er. Ein, äh,... Kumpel von Matreus. Aber einer von den Wächtern wäre frei geworden.“ „Wächter?“ „Das sind die Kinder, die gegen Zanrelot kämpfen.“ „Ah, verstehe. Harry, Ron, Hermine.” “Ja, so ähnlich. Aber die sind nur zu dritt. Wir müssen immer vier sein.“ „Tja,... cool, dann ab an den PC und lass uns loslegen!“ „Also... Das ist mehr ein Reality-Spiel, wenn du verstehst...“ „Klingt schräg! Sowas hab ich noch nie gemacht. Na los, dann erzähl mal!“

 

Bis es Abend wurde, hatte Ottis gewagtes Projekt schon große Fortschritte gemacht. Er hatte Zarko den anderen Wächtern vorgestellt und sie halbwegs davon überzeugt, dass es richtig war, einen Neuen einzuweihen. Er hatte Zarko eine Menge Wissen vermittelt, auch wenn der immer noch glaubte, das Ganze sei irgendein Spiel. Er hatte ihm gezeigt, wie die magischen Löser funktionierten, und Pinkas dazu gekriegt, ihm den Laserpointer abzutreten. Jetzt spielte Zarko damit herum und kriegte schon ganz beachtliche Strahlen hin. „Cool, so cool!“ murmelte er immer wieder verzückt vor sich hin, “wie macht ihr diese Effekte bloß?” „Das sind keine Effekte, das ist Magie“, versuchte Otti ihm klarzumachen. „Weißt du, wie abgefahren das alles ist?“ rief Zarko aus. Doch es klang nicht ablehnend, sondern seine Augen leuchteten dabei vor Begeisterung. Er erzeugte einen blitzblauen Strahl und fuchtelte wild mit dem Laser, so dass er ein Loch in die Tapete brannte.

„He!“ schrie Pinkas ihn an, „pass doch auf!“ Aber Karo warf ihm einen bösen Blick zu und tadelte ihn: „Geh doch nicht gleich so auf ihn los! Er muss noch üben.“ Sie legte sanft eine Hand auf den Laserpointer und drückte ihn nach unten. Zarko ließ den Strahl erlöschen und lächelte ihr zu. „Ach herrjeh!“ kreischte Pinkas, „was war das denn, Karo? Musst du das arme Emo-Baby beschützen, damit es nicht losheult?“ Karos Blick wechselte von einfach nur böse zu vernichtend. „Vielleicht sind Emos in Wahrheit cooler als Leute, die keine Gefühle zeigen können!“ Das saß. Wie ein getroffenes Tier zuckte Pinkas zusammen, sprang auf und rannte ohne ein Wort nach draußen. Karo lief ihm nicht nach. Sollte er doch nach München gehen oder dahin, wo der Pfeffer wuchs! Er war nicht unersetzlich, weder als Wächter, noch... allgemein.

„So“, schlug Otti vor, „ich will dir noch etwas zeigen, Zarko. Die Schleuse.“ „Du meinst, wir gehen durch den Spiegel? In die Unterwelt?“ Die Augen des neuen Wächters leuchteten. „Genau.“ „Boah, bin ich gespannt! Das müssen ja coole Effekte sein!“ „Ähm, Zarko, das sind keine Effekte! Warte, bis du das gesehen hast, dann weißt du, was ich meine.“

Die Mädchen hielten im Haus die Stellung und drehten das Rad, während sich Otti und Zarko vor dem Spiegel positionierten. Plötzlich tat sich der endlose, bunte Tunnel auf und saugte die beiden Jungen ein. „Ist das geiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiil!“ schrie Zarko während des ganzen Weges bis in die Unterwelt.

„Da wären wir“, sagte Otti, nachdem sie unten aufgekommen waren, „darf ich vorstellen? Die Unterwelt.“ Zarko hüpfte vom Podest und fing an, sich umzusehen. Otti folgte ihm, vorsichtig nach allen Seiten sichernd. „Hast du gar keine Angst?“ fragte er den Neuen. „Nö, warum? Es ist so...“ „Sag jetzt nicht ‚cool’!“ „Nein, ‚abgefahren’ hier.“ Er breitete die Arme aus und zog die Luft ein, wie einer, der am Urlaubsort als erstes ans Meer rennt und die Atmosphäre schnuppert. „Es riecht nach...“ „Nichts.“ „Nein! Riechst du das nicht? Nach kaltem Stein und Erde und Asche, nach Feuer und...“ „Hör auf!“ zischte Otti, „es riecht vor allem nach Gefahr! Also sei still!“ Er schlich voran, Richtung Zentrale, dicht gefolgt von Zarko, der wohl immer noch nicht kapierte, dass das hier kein Spiel war.

„Hier ist es!“ flüsterte Otti schließlich und zeigte seinem Freund den Raum mit dem Computerterminal. Matreus stand am Eiswürfelautomaten und ärgerte sich zum Glück mal wieder so damit herum, dass er die Eindringlinge nicht bemerkte. „Zanrelot ist grad nicht da“, bemerkte Otti. „Ist wohl besser für uns, oder?“ „Schon, aber ich wollte ihn dir zeigen. Egal, du kriegst ihn noch früh genug zu sehen. Lass uns jetzt gehen, du musst nicht am ersten Tag gleich in Kämpfe verwickelt werden.“ „Ach, schade! Ich meine: Ja, gehen wir.“


Die Mädchen warteten bereits in der Scheune auf sie. „Alles in Ordnung?“ fragte Leo. „Bist du okay?“ sprach Karo ganz speziell Zarko an und schaute sehr besorgt. „Alles bestens!“ versicherte er strahlend. Er kroch ein Stück durchs Heu und machte einen Riesensatz von dort aus bis durch die Tür ins Freie. „He, sportlich, sportlich!“ staunte Otti, „du, aber, Zarko, ich muss noch mal was klarstellen: Ich freue mich zwar, dass du das alles so locker nimmst und dass es dir Spaß macht, aber das hier ist kein Spiel. Es geht um Magie und es geht um echte Gefahren.“ Zarko sah ihn von der Tür aus an. „He, Otti, keine Sorge! Das ist inzwischen sogar mir klargeworden. Okay?“ „Okay. Dann ist es wohl Zeit, dich in unseren Kreis aufzunehmen.“ „Sollten wir damit nicht warten, bis Pinkas weg ist?“ „Ach der! Die paar Tage machen auch keinen Unterschied mehr, und wer nicht will, der hat schon. Also, sprich mir nach: Ich, Zarko Urs, ein Freier und Gerechter, nehme an das Amt der Wächter.“ „Soll ich wirklich?“ „Ja!“ „Also gut...“ Zarko schloss die Augen und schien kurz zu meditieren, dann sprach er den Satz nach: „Ich, Zarko Urs, ein Freier und Gerechter, nehme an das Amt der...“

„Halt, halt, halt, halt!“ Eine blau-durchsichtige Gestalt war in der Scheune gelandet. „Tante Hedda!“ riefen die drei alten Wächter. „Richtig, Tante! Aber nicht von diesem fremden Jungen! Er kann kein Wächter sein, er gehört nicht zur Familie.“ „Er muss ein Wächter werden, Tante Hedda!“ rief Leo ganz aufgeregt, „wir sind sonst kein magisches Quartett mehr! Pinkas macht nicht mehr mit!“ „Macht er das wirklich wahr?“ Karo sagte bitter: „Ja, das tut er. Er hat mich... ich meine, uns einfach verlassen.“ „Ja, dann...“ Tante Hedda wirkte zum ersten Mal wirklich ratlos, „dann müssen wir es wohl versuchen. Ich kenne nämlich sonst keine lebenden Verwandten mehr. Was meinst du, Jona?“ Alle Augen wandten sich zur Tür. Hinter Zarko stand der Mentor der Wächter. „Jona! Wo kommst du denn her?“ rief Leo. „Ich habe ihn gerufen“, sagte Tante Hedda, „schließlich stehen wir vor einer wichtigen Entscheidung.“

Jona nahm Zarko in Augenschein und umgekehrt. Die beiden musterten einander eingehend, starrten sich gegenseitig geradezu an. Endlich riss Jona seinen Blick los und meinte: „Wir sollten ihn nicht nehmen.“ „Was?“ riefen die drei alten Wächter wie aus einem Mund. „Wie soll das gehen?“ fragte Karo, „wir sind nur noch drei! Willst du Lübeck dem Untergang weihen?“ „Nein... Nein, ich weiß auch nicht... Es war nur so ein Gefühl. Vielleicht sollte ich erst nochmal mit Pinkas reden.“ „Das habe ich schon versucht“, seufzte Hedda, „es hat keinen Zweck. Jona, wir brauchen Zarko!“ „Na gut. Ihr habt sicher recht. Ja.“ Und so wurde Zarko Urs an diesem Abend ein Wächter. 

 

Pinkas war voll und ganz mit seinen Umzugsvorbereitungen beschäftigt. Fast voll und ganz... Nebenher behielt er auch noch recht genau Karo und den Neuen im Auge. Was bildete dieser Zarko sich eigentlich ein? Nicht genug, dass er ihm das Wächteramt und den Laser abnahm (dass es selbstgewollt war, fiel Pinkas in solchen Momenten nicht ein), nun auch noch seine Freundin? Pah, bloß, weil der seine Gefühle so offen mit sich rumtrug, dass jeder zur seelischen Peepshow eingeladen war? Oder weil er den Umgang mit dem magischen Laser viel schneller gelernt hatte, als damals Pinkas? Pff, doch auch nur, weil er gar nicht raffte, womit er da rumspielte! Pinkas musste Karo unbedingt warnen, dass sein „Ersatzmann“ nicht die tolle Type war, für die sie ihn hielt. Ja, genau! Das musste er erledigen, bevor er ging. Drei Tage blieben ihm noch.

Am ersten Tag versuchte er es mit dem Seelen-Striptease-Ding, - was Karo nur ein lautes Hohnlachen entlockte. „Weißt du was?“ konterte sie gehässig, „Frauen ohne Reize schimpfen auch gern auch auf Striptease-Tänzerinnen.“

Am zweiten Tag probierte er die Masche: „Der weiß doch gar nicht, was er tut. Für ihn ist die Magie nur ein Spiel.“ Auch kein Volltreffer. Karos ganze Reaktion: „Dafür spielt er es aber hundertmal besser, als du es je im Ernst praktiziert hast! Das nennt man wohl magisches Potential.“

Am dritten Tag, als die Koffer schon fertig gepackt vor der Haustür standen, wagte Pinkas seinen letzten und verzweifeltsten Versuch: „Er ist... er ist...“ „Na, was?“ Karo stand mit in die Hüften gestemmten Armen in der Türöffnung. “Er ist Z!” schrie Pinkas, um ihn endlich schlechtzumachen, „Zarko! Z! Ja!“ Karo brach in wieherndes Gelächter aus. „Na, klar doch! Dass mir das nicht früher aufgefallen ist! ‚Zarko Urs’ ist natürlich ein perfektes Z-Anagramm, ja! Lass mal überlegen. Hu, wie gruselig, daraus könnte man zum Beispiel ‚Zar Rusko’ machen oder ‚Roz Karus’ oder ‚Zuko Sars’ – he, ist Zuko nicht ein Comic-Bösewicht? Und SARS eine Seuche? Sehr bedenklich, wirklich, äußerst zanrelotisch!“ Pinkas fühlte sich ertappt und in die Enge getrieben. Ihm war klar, dass dieser Versuch reichlich aus der Luft gegriffen war, aber was blieb ihm denn noch übrig? „Äh, na und?“ unternahm er einen verzweifelten, letzten Anlauf, „von ‚Franz Olte’ bis ‚Zanrelot’ ist auch ein ‚F’ verloren gegangen!“ „Ja, aber kein halbes Alphabet. Und übrigens kann man aus ‚Pinkas Sörensen’ fast problemlos ‚Pinkelröhre’ machen! Passt nicht perfekt, aber du nimmst es damit ja nicht so genau.“ „Äääähmmmm...“ „Und wo wir gerade dabei sind: VERPISS DICH!!!“

Wenig später schauten sie dem Cabrio hinterher, das mit Sascha, Pinkas und einem Haufen Gepäck um die Ecke bog. „Da fährt er hin...“, murmelte Otti. „In sein neues Leben“, seufzte Leo traurig. „Von mir aus hätte er zu Fuß bis München latschen können“, giftete Karo, „ich wäre nicht so nett wie Sascha, ihn zum Bahnhof zu fahren.“ „Tja, Sascha ist unser Vater“, sagte Otti, „der freut sich natürlich, wenn sein Sohn Karriere macht. Er weiß ja auch nichts von der Wächtergeschichte.“ „Ach, Karriere!“ winkte Karo ab, „Pinkas wird dort nur noch eitler und großkotziger werden, als er schon ist. Sind Väter immer so naiv?“ „Wenn es um ihre Söhne geht? Schon!“ meinte Zarko.

Julia kam aus dem Haus gestürzt. „Oh, nein! Sie sind schon weg? Ich wollte Pinkas noch ‚Auf Wiedersehen’ sagen!“ Grinsend flüsterte Karo Zarko ins Ohr: „Meine Mutter hält den Weltrekord im Zuspätkommen.“ Julia stolperte auf der Treppe, weil sie nur einen Schuh anhatte. Zarko fing sie auf. „Ups! Danke! Das war aber nett von dir, äh... Wer bist du eigentlich?“ Er verbeugte sich formvollendet vor ihr: „Zarko Urs.“ „Mein neuer Klassenkamerad“, erklärte Otti. „Unser neuer Freund!“ betonte Karo. „Der neue Wä...“, platzte Leo heraus und konnte sich gerade noch stoppen, „äh, der neue Weltrekordler im Mütterauffangen.“ Sie kicherte. Julia musste auch lachen. „Du hast wirklich sehr gut reagiert“, lobte sie Zarko, „möchtest du mit uns zu Abend essen?“ „Gern, danke.“

Bei Tisch stieß Julia Otti an und flüsterte ihm zu: „Dein neuer Freund langt ja zu, als hätte er seit Jahren nichts zu essen gekriegt! Ist seine Familie arm?“ Otti grinste. „Nein, das glaube ich nicht gerade.“ Er gab den Schubser weiter an Zarko und feixte: „He, du isst nicht gerade so formvollendet, wie du sonst tust!“ Zarko ließ erschrocken die Gabel fallen. „Esse ich unmanierlich?“ fragte er. „Nein, nur viel“, antwortete Otti lachend. „Iss nur!“ ermunterte Julia ihn rasch, „ich freue mich doch, wenn dir mein Essen schmeckt!“ Zarko strahlte. „Ja, es schmeckt alles einfach fantastisch!“ Er stopfte sich eine weitere Gabel voll von Julias Salat in den Mund und kaute genüsslich. Karo und Leo, die sich jeden Abend davon ernährten, grinsten sich zu.


Bis sie mit dem Essen fertig waren, kam Sascha vom Bahnhof nach Hause. „So, Pinkas sitzt im Zug“, berichtete er. Zarko erhob sich. „Es ist schon spät und morgen ist Schule. Ich werde dann mal gehen.“ „Ich kann dich heimfahren“, bot Sascha an, „der Wagen steht noch vor der Tür.“ „Oh, nein, das... ist wirklich nicht nötig! Danke!“ „Es macht keine Umstände. Na los, komm!“ „Nein, wirklich, ich möchte lieber laufen.“ „Den weiten Weg von hier draußen bis rein nach Lübeck? Im Dunkeln?“ „Oh, ich habe keine Angst vor der Dunkelheit. Wirklich nicht.“ Sascha runzelte die Stirn. „Am Ende kriegen wir Ärger mit deinen Eltern, wenn wir dich nachts allein draußen herumlaufen lassen.“ „Nein, die machen keinen Ärger. Ganz bestimmt nicht. Also, wir sehen uns morgen in der Schule, Leute. Bin dann weg.“  

 

Am nächsten Morgen in der Schule war Karo reichlich unkonzentriert, obwohl sie doch, dank Zarkos Umsicht, alle genug Schlaf bekommen hatten. Statt der Lehrerin zu lauschen und sich Notizen zu machen, kritzelte sie in ihrem Heft herum. Blümchen. Sterne. Herzchen. KARO. ZARKO. He, das waren ja fast dieselben Buchstaben! ZKARO. KAROZ. KARO + Z.

„Karoline Lehnhoff! Träumst du?“ Sie schreckte hoch und blickte direkt ins Gesicht der Lehrerin. Hastig klappte sie ihr Heft zu. Die Stimme der Lehrerin wurde sanfter. „Karoline, ich verstehe ja, dass es nicht leicht für dich ist. Pinkas ist nicht mehr da, wir alle vermissen ihn und du sicher am meisten. Aber du musst dich bitte trotzdem auf den Unterricht konzentrieren.“ Karo nickte brav. ‚Pinkas!’ dachte sie trotzig, ‚wer würde denn den vermissen?’ Klar hatte sie auch Pinkas in ihr Heft gezeichnet, gleich zu Anfang: als Galgenmännchen.

 

Otti war ein wesentlich aufmerksamerer Schüler als Karo. Heute war er ja auch nicht mehr abgelenkt durch einen Neuen neben ihm. Da saß kein Fremder mehr, sondern Zarko, sein Freund. Der widmete sich allerdings nicht so sehr dem dicken Gasel, ihrem Geschichtslehrer (Spitzname: Michelin-Männchen), sondern blätterte in seinem Schulbuch: „Lübeck von der ersten Ansiedlung bis heute“. Immerhin interessierte er sich überhaupt für Geschichte. Sein Finger glitt über das Stichwortverzeichnis hinten im Buch. Er fing ganz hinten an und arbeitete sich von unten nach oben vor: „Zwischenhandel“, „Zweitausend, Jahr“, „Zweifelderwirtschaft“, „Zwanzigstes Jahrhundert“, „Zuwanderung“, „Zuschüsse“, „Zusammenschluss (Hanse)“, „Zünfte“, „Zukunftsprognosen“, „Zuchthaus“, „Zoologischer Garten“, „Zoll“, „Zivilisation“, „Ziegenhaltung“, „Zeughaus“, „Zerstörungen (Weltkriege)“, „Zeremonienmeister“, „Zeitungswesen“, „Zeitlinie“, „Zehnt“, „Zauberei, siehe Hexenprozesse“, „Zanrelot“.

 

„Zanrelot:

a)    Historisch belegte Persönlichkeit der Lübecker Stadtgeschichte. Geboren als Franz Olte 1527, Todesdatum unbekannt. Angeblich ein illegitimer Sohn des Bürgermeisters -> Wullenwever, Jürgen. Fehde mit dem Herzogtum Braunschweig. Vergeblicher Versuch, die Krone an sich zu bringen, die heute im -> Lübecker Dom zu sehen ist.

b)    Lübecker Sagengestalt. Böser Geist unter der Stadt.“

 

Zarko klappte das Buch mit einem Knall zu. Otti schrak hoch. „Vorsicht, nicht so laut!“ raunte er seinem Nachbarn zu. Doch es war schon zu spät. Der dicke Gasel war auf ihn aufmerksam geworden. „Na, Zarko“, spottete er, „hast du nicht gefunden, was du gesucht hast? Tja, es stehen leider keine Ratgeber für pubertierende Jugendliche darin. Die findet ihr eher im Biologiebuch.“ Zarko starrte ihn finster an. „Die Schreiber von Geschichtsbüchern sollten sich besser mal an die Gelben Seiten halten“, knurrte er. Der Lehrer schaute ihn verständnislos an: „Äh,... Gelbe Seiten?... Wieso...?“ „Na: ‚Fragen Sie lieber jemanden, der sich damit auskennt’!“

Die ganze Klasse gröhlte vor Lachen. Nur Gasel schaffte es, völlig humorfrei zu bleiben. „So, na, dann wollen wir doch mal sehen, wie gut du dich in der Lübecker Stadtgeschichte auskennst, Zarko. Falls es dir entgangen ist: Wir sprachen gerade über die Hanse und ihre Schiffe. Könntest du uns freundlicherweise darüber aufklären, was eine Kogge ist?“

„Eine Kogge? Selbstverständlich. Die Hansekogge war ein weit verbreiteter Segelschifftyp des Mittelalters. Koggen wurden vorwiegend als Handelschiffe, aber im Bedarfsfall auch für militärische Zwecke eingesetzt. Die Koggen waren Einmaster und hatten am Mast ein Rahsegel und einen Ausguck, das sogenannte Krähennest. Sie hatten hinten ein Achternkastell und teilweise vorne ein Bugkastell. Die Planken waren mit Pech und Werg abgedichtet. Hm, ja, und das hervorstechendste Merkmal der Koggen ist ihre bauchige Form.“ Er starrte auf den weit ausladenden Bauch des Geschichtslehrers. „Ja, sie sind wirklich sehr dick.“ Unterdrücktes Kichern aus allen Bankreihen.

„Äh, ja,... das... Das war ein Vortrag, der von umfassendem Wissen zeugt. Danke, setzen! Ach so, Sie sitzen ja bereits. Ja... Ich glaube, wir schließen das Thema ‚Schiffe’ jetzt besser ab und wenden uns den Handelsbeziehungen der Hanse zu.“ Zarko lächelte verbindlich und wandte sich in aller Seelenruhe wieder dem Stichwortverzeichnis seines Buches zu, bis die Stunde vorbei war.

 

Am Nachmittag unternahm das neue Wächterquartett einen gemeinsamen Ausflug in die Stadt. Sie hatten in den letzten Monaten selten Zeit für etwas so Normales und Entspanntes gehabt, befanden sie sich doch im ständigen Kampf nicht nur mit den Schulaufgaben, sondern auch noch mit dem Bösen. Doch momentan war es bemerkenswert ruhig. Bis auf Matreus’ kurzen Auftritt im Garten war nichts Verdächtiges passiert. Sie fuhren mit dem Bus in die Altstadt und schlenderten herum. Zarko sah sich die Sehenswürdigkeiten seiner neuen Heimat äußerst interessiert an. „Zarko ist ein Geschichts-Ass“, klärte Otti die Mädchen schmunzelnd auf, „aber mich fragen, ob ich ein Streber bin, ne?“ „Wissen ist Macht“, meinte Zarko achselzuckend und inspizierte weiter die Fassade des historischen Rathauses.

Karos Blick blieb wenig später sehnsüchtig an einem Schaufenster hängen. „So ein Eis, das wär’s jetzt!“ seufzte sie. „He, warum nicht?“ fragte Zarko. „Spinnst du?“ fragte Leo, „man merkt, dass du nicht von hier bist! Das ist nicht irgendeine Eisdiele, das ist Häagen Dasz!“ „Na und?“ „Die belgische Firma Häagen Dasz hat ihren deutschen Standort zwar hier in Lübeck“, klärte Otti den Neubürger auf, „ist aber für durchschittliche Lübecker Kinder leider unerschwinglich.“ „Mit anderen Worten: Das Zeug ist sauteuer“, übersetzte Karo, „nicht im Rahmen unseres Taschengeldes.“ „Ach so.“ Zarko kramte in seiner Tasche und zog einen 50-Euro-Schein hervor. „Geld hat meine Familie genug, wenn’s nur das ist. Ich lad euch ein.“ Die anderen starrten auf den Schein, aber Zarko ließ ihnen nicht viel Zeit zum Staunen und betrat das Geschäft.

Einige Minuten später saßen sie um einen Cafétisch, jeder einen riesigen Eisbecher vor sich. Die feinsten Sorten: „Dulce de Leche“, „Strawberry Cheese Cake“, „Macadamia Nut Brittle“, „Cookies & Cream“,... „Pech für Pinkas, dass er nicht dabei ist!“ bemerkte Karo und schleckte genüsslich an ihrem Löffel, „aber der ernährt sich ja jetzt von Radi mit Salz, höhö!“ Zarko schob sich gierig einen großen Löffel voll „Cookies & Cream“ in den Mund und schrie auf: „Hu, ist das kalt!“ „Was sonst?“ meinte Otti irritiert, „das ist Eis.“ Zarko schluckte den kalten Brocken hinunter, kniff die Augen zusammen, nickte dann, hustete kurz und sagte: „Klar.“

Nach dem Eisgenuss liefen die Kinder zum Fischereihafen. Hier fand Zarko auf der Straße eine hübsche Blechdose. „Niederegger, Echt Lübecker Marzipan“ stand darauf und das Holstentor war abgebildet. Die Dose war leer, aber praktisch und schön. Zarko hob sie auf und betrachtete sie eingehend. Otti warf einen Blick darauf. „Ah ja, Lübecker Marzipan, unsere andere Leckerei außer Häagen Dasz und mit längerer Tradition. Das musst du unbedingt probieren.“ „Au ja. Und das Döschen behalte ich, es gefällt mir.“ Otti nickte und schaute Richtung Hafenbecken. „He, ist da drüben nicht eine historische Kogge? So eine wie aus dem Unterricht heute? Mist, die Sonne blendet, ich kann es nicht richtig erkennen.“ Er zog seine Sonnenbrille aus der Hemdtasche, setzte sie auf und schaute nochmal. „Ach, nee, doch nicht, Schade. Sah von weitem so aus.“ Er drehte sich halb zu Zarko um – und schrie auf: „Ah! Zarko!“ Der fuhr erschrocken zusammen. „Was ist denn?“ „Schmeiß das weg!“ „W... was denn?“ „Die Dose! Sie ist verzaubert! Um dich herum leuchtet alles ganz grün!“ „Was? Oh,... oh nein!“ Zarko riss Otti die Sonnenbrille von der Nase. Er setzte sie auf und starrte auf das Döschen. „Ja, tatsächlich!“ In hohem Bogen warf er die Dose ins Wasser und steckte die Brille zurück in Ottis Tasche. „Nein, wie furchtbar“, murmelte er. „Ja, das ist gerade noch mal gut gegangen“, keuchte Otti, „vor Zanrelot musst du wirklich immer auf der Hut sein.“ „Ich werd es mir merken.“

Bis zum Abend waren die vier Kinder so viel in der Stadt herumgelaufen, dass ihre Füße schmerzten und sie die Augen kaum noch offen halten konnten. Otti und Leo schliefen sogar im Bus ein. Sie wachten nur kurz auf, als der Fahrkartenkontrolleur kam und ihre Schülerausweise sehen wollte. Danach nickten sie gleich wieder ein. „Zeig mal deinen!“ bat Zarko und schielte nach Karos Schülerausweis. Sie wurde rot. „Lieber nicht, du weißt doch, wie bescheuert man auf diesen Fotos immer aussieht.“ „Egal! Denkst du, ich nicht? Die Hauptsache ist doch, dass ich weiß, wie hübsch du wirklich bist.“ Er lächelte und sie wurde noch röter. „Na gut, hier!“ Er schnappte sich ihren Ausweis und betrachtete ihn grinsend. „Karoline Lehnhoff“, las er, „also, Karo klingt wirklich besser. Und das sollst du sein, auf dem Foto? Hihi!“ „Na ja, da bin ich ein paar Jährchen jünger...“ „Niedlich.“ „Jetzt zeig deinen!“ „Na gut.“

„Was für ein doofes Foto von dir!“ gluckste Karo, “hätte nicht gedacht, dass man einen so gut aussehenden Menschen derart verunstalten kann!“ „Gut aussehend?“ „Oh, äh,... na ja, ich meinte,... ach, du weißt schon...“ Karos Gesicht hatte vollends die Farbe einer Tomate angenommen und Zarko grinste stolz. Karo musste nun unbedingt ganz, ganz gründlich alles lesen, was auf dem Ausweis stand und beugte ihr Gesicht tief darüber. „’Haarfarbe: blond.’ Hä? Du hast doch schwarze Haare!“ „Na ja, gefärbt, ich geb’s ja zu. Passt besser zum Emo.“ „Verstehe. ’Augenfarbe: gemischt.’ Hm, lass mal sehen!“ Sie nutzte die willkommene Gelegenheit, ihm aus nächster Nähe tief in die Augen zu sehen. „Hmmm, sie sind... blau? Nein, grau. Nee, grün? Das ist ja hammerhart! Die haben jedenfalls recht mit ‚gemischt’. Auf jeden Fall hast du echt tolle Augen!“ Zarko grinste verlegen und war nun selber etwas rot geworden. Karo riss sich mühsam von seinem Blick los und betrachtete weiter seinen Schülerausweis. Plötzlich fing sie an zu kichern. „Was ist so lustig?“ fragte er alarmiert. „Elton!“ prustete sie, „du heißt echt mit zweitem Namen Elton?“ „Na und?“ fragte er mit leicht beleidigtem Unterton, ist das vielleicht kein normaler Name? Englisch halt, aber ist doch heute üblich und wir sind eben eine Multikultifamilie. Na ja, meine Mutter ist nun mal ein Fan von Elton John, okay?“ „Schon gut“, kicherte Karo, „ich musste nur an diesen Elton aus dem Fernsehen denken, den Komiker.“ „Den kenne ich gar nicht.“ „Echt nicht? Dieser Typ bei Stefan Raab, sein Diener sozusagen, anders kann ich das nicht nennen. Der arme Kerl muss immer alles ausbaden. Fast wie...“ Sie kicherte erneut, bei dem Gedanken, der ihr in den Sinn kam. „Fast wie Matreus!“ „Matreus? Dieser Typ aus dem Garten? Äh,... wieso... der? Muss der auch immer alles ausbaden oder wie?“ „Glaub schon.“ „Hm...“ „Egal, steck deinen Ausweis weg, Zarko Elton Urs! Ich mag dich und deinen lustigen Namen auch. Oh, schau mal, wir sind gleich da. Wir sollten die anderen wecken.“

 

Einige Tage später saßen die Wächter zusammen im Garten bei einer Lagebesprechung. Eigentlich gab es nicht viel zu diskutieren. Gut, sie hatten ein Mitglied verloren und ein neues gewonnen, aber sonst war nicht viel passiert. „Zanrelot hält ziemlich die Füße still“, fand Karo, „es hat sich lange gar nichts mehr geregt.“ „Das würde ich so nicht sagen“, grübelte Otti, „denk an die verzauberte Dose im Hafen!“ „Na ja, wenn das alles war...“ „Sag das nicht! Wer weiß, was passiert wäre, wenn wir sie nicht gleich vernichtet hätten.“ „Das will ich lieber gar nicht wissen. Ich genieße es ganz einfach, dass es mal so ruhig ist.“ Karo warf Zarko ein verträumtes Lächeln zu und er erwiderte es sehr charmant. „Otti hat aber recht“, meldete sich nun Leo zu Wort, „wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen. Schließlich ist auch noch Matreus kürzlich hier herumgestreift.“ 

„Wenn man vom Teufel spricht!“ schrie Otti und sprang auf. „Da war er! Matreus! Ganz sicher! Ich hab ihn gesehen! Hm, jetzt ist er weg.“ Die Mädchen schauten sich achselzuckend an. Sie hatten niemanden gesehen. „Echt, er war hier!“ beteuerte Otti, „hat da hinten bei den Büschen rumgehangen, wer weiß, wie lange schon.“ „Ich mach das schon“, sagte Zarko lässig und stand auf. „Nein!“ schrie Otti, „lass das! Inzwischen weißt du doch, dass er ein mächtiger Magier ist! Mächtiger als wir alle zusammen!“ „Ach, wirklich?“ „Zarko, bitte, du bist verrückt! Ein zweites Mal lässt der sich nicht so einfach abwimmeln. Du bist jetzt ein Wächter, er wird dich...“ Doch Zarko war unbeirrt weiter auf das Gebüsch zugeschritten. „Komm raus da, Matreus! Los, zeig dich!“

Es raschelte kurz in den Zweigen, dann trat tatsächlich Matreus hinter den Büschen hervor. „Matreus“, sagte Zarko sehr ruhig, „du schon wieder. Ich hatte gehofft, du hättest verstanden, dass du hier nicht erwünscht bist.“ Doch diesmal ließ der junge Dämon sich wirklich nicht so leicht abwimmeln wie beim letzten Mal. Seine Augen flackerten unruhig, als er den Zauberstab zog und auf Zarko richtete, doch er sagte fest entschlossen: „Ich werde diesmal nicht gehen! Nicht allein! Ich werde euch mitnehmen in die Unterwelt!“ „Wie, uns alle?“ „Nein, nur... äh, dich.“ Zarko schaute ihn bedauernd an: „Dagegen hab ich aber was.“ „Das ist mir egal!“ jaulte Matreus und klang regelrecht verzweifelt, „mitkommen!“ Er machte einen Satz nach vorn und packte Zarko am Ärmel. „He! Was soll das?“ Zarko blickte sich hilfesuchend nach den anderen Wächtern um. „Lass Zarko in Ruhe!“ schrie Karo laut auf und hastete nach vorn, das Amulett auf Matreus gerichtet. Der Zorn verlieh ihrem Lichtstrahl ungeahnte Wucht. Matreus kreischte vor Schmerz, als er davon getroffen wurde. Er ließ Zarko los, krümmte sich und hielt seine Hand, wo ihn der magische Strahl getroffen hatte. Dann schaute er in die Runde, als wollte er beinahe weinen vor Wut und Verletztheit, wirbelte herum und löste sich vor ihren Augen in Nichts auf.

„Puh, das tat weh“, murmelte Zarko. Karo stürzte besorgt zu ihm hin: „Was tut weh? Bist du verletzt? Zeig!“ „Nein, nein“, beruhigte er sie, „ich bin okay. Ich meinte Matreus.“ „Ach der! Mach dir doch keine Sorgen um den!“ „Nein...“ Aber sein Blick hing noch immer nachdenklich auf der Stelle, wo eben noch Zanrelots Helfer gestanden hatte.

„Mensch, Zarko!“ ächzte Otti, „das nächste Mal bist du bitte nicht so leichtsinnig, ja?“ Der neue Wächter senkte betroffen den Kopf. „Ich hab wohl alles falsch gemacht, wie? Jetzt magst du mich nicht mehr, stimmt’s?“ Otti packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn: „He! Natürlich mag ich dich! Wir mögen dich alle! Deshalb machen wir uns ja Sorgen um dich!“ „Ach so... Gut, wenn das so ist, werd ich wohl vorsichtiger sein.“ Karo fiel ihm heulend um den Hals und er wirkte etwas hilflos.

 

Auch in den nächsten Tagen passierte nichts Aufsehenerregendes. Nur Matreus wurde immer mal wieder in der Nähe der Villa gesichtet, aber er tat nichts weiter, als ziemlich ziellos umherzustreifen. Offenbar hatte Zanrelot noch keinen neuen Plan, sonst hätte es längst wieder merkwürdige Vorkommnisse gegeben. „Matreus sieht irgendwie chaotisch aus“, stellte Karo fest, „so wie einer, der sich nicht mehr richtig pflegt. Seine Haare sind völlig verstrubbelt und er wirkt irgendwie ratlos und verstört.“ „Pff“, machte Otti, „fängst du jetzt auch noch an, dir Sorgen um DEN zu machen?“ „Nein, es fiel mir nur auf.“

Zarko legte von hinten die Arme um sie. „Was hältst du von einem Ausflug, da es gerade so still ist?“ flüsterte er ihr ins Ohr. Sie wandte den Kopf nach hinten und erwiderte: „Meinst du? Wir waren doch gestern erst...“ „Ich meine nicht ‚wir vier’“, raunte Zarko, „ich meinte ‚wir zwei’..“ „Oh...“ Sie warf einen schuldbewussten Blick auf die beiden anderen Wächter. „Mach dir keine Sorgen um die beiden“, wisperte Zarko, „die sind beschäftigt. Otti hat versprochen, Leo bei den Hausaufgaben zu helfen.“ Karo nickte langsam.

Sie warteten geduldig ab, bis die anderen beiden im Haus verschwunden waren. „Gut“, sagte Karo, „dann haben wir jetzt also Zeit für uns. Wie ungewohnt. Und was machen wir jetzt? Wollen wir wieder nach Lübeck rein? Ins Eiscafé?“ „Ach, da waren wir schon so oft.“ „Stimmt. Hm... Lieber raus in die Umgebung, irgendwo in die Pampa?“ Zarko verzog das Gesicht. „Guck mal, die schwarzen Wolken dahinten! Hast du den Wetterbericht nicht gehört? Ich fürchte, die Pampa wird bald eine einzige Pampe sein.“ „Oh, Mist, ja. Ein trockenes Plätzchen wäre wohl besser. Aber im Kino läuft auch nichts Gescheites.“ Zarko grinste geheimnisvoll. „Hast du eine Idee?“ fragte Karo neugierig. „Hm, ja, aber eine verrückte.“ „Schieß los, ich mag verrückte Ideen!“ „Also... Was hältst du von einem Ausflug in die Unterwelt? Mir ist nach etwas Abenteuer und ich meine, wofür sind wir Wächter?“ Karo starrte ihn an. „In die Unterwelt? Einfach so, zum Vergnügen? Bist du wahnsinnig?“ „Vielleicht“, antwortete er achselzuckend, „aber es ist bestimmt das trockenste Plätzchen weit und breit und sogar erreichbar, ohne das Haus zu verlassen. Und in jedem Fall aufregender, als einfach zuhause zu bleiben, oder?“ Karo, die gerade die ersten dicken Regentropfen abbekam, nickte nachdenklich. „Wann, wenn nicht jetzt?“ drängte Zarko, „Matreus ist nicht unten, den haben wir grad noch da draußen gesehen.“ „Bei dem Regen wird der wohl auch heimgehen“, wandte Karo ein. „Glaub ich nicht“, meinte Zarko, „der war doch voll neben sich. Außerdem hab ich gesehen, wie er in euren Keller gerannt ist.“ „Er ist in unserem Haus? Er wird es zerstören!“ „Nö, ich denke, er will sich bloß unterstellen.“ „Aber Zanrelot!“ „Ach so, der, ja. Na ja, dem gehen wir einfach aus dem Weg. Er kann ja auch nur an einem einzigen Ort sein, wahrscheinlich in seiner Zentrale. Die Unterwelt hat bestimmt noch andere interessante Orte zu bieten.“ Karo sah ihn kopfschüttelnd an. „Du Verrückter! Aber okay, mir ist auch mal wieder nach etwas Aufregung. So lange wir es nicht übertreiben! Versprochen?“ „Versprochen.“ 

 

Hand in Hand ließen sich die beiden vom Tunnel hinter dem Spiegel einsaugen und wirbelten, wie durch Raum und Zeit, hinab in die Unterwelt. Zarko atmete tief durch, nachdem sie gelandet waren. Karo fühlte sich unwohl und zitterte. Er legte fürsorglich einen Arm um sie und meinte: „Hier ist es doch gar nicht kalt.“ „N... nein, nur... so dunkel. Und gruselig.“ „So dunkel ist es doch gar nicht“, behauptete Zarko, „alle Räume sind doch beleuchtet. Und gruselig? Was denn?“ Karo schaute sich um und überlegte. „Im Grunde nichts, wenn man nicht weiß, wer hier wohnt und wenn man hier unten nicht schon einiges erlebt hat. Es ist mehr das Gefühl, dass hinter jeder Ecke Gefahr lauern könnte.“ Sie spähte ängstlich in alle Richtungen. Zarko lächelte. „Das ist doch aber auch das Reizvolle, oder?“ Karo sah ihn zweifelnd an: „Na ja, wenn du meinst...“

Sie schlüpften durch verschlungene, unterirdische Gänge und erkundeten Räume, die Karo zum Teil noch nie gesehen hatte. Die Schatzkammer, die Seelenhalle, aber auch undefinierbare Orte, Maschinenräume mit geheimnisvollen, magischen Instrumenten und sogar etwas so Privates und irgendwie Anrührendes wie Schlafkammern. Karos Angst wich immer mehr der Faszination.

Irgendwann kam es doch zu einem Zusammenstoß, obwohl sie sehr vorsichtig vorgegangen waren und die Nähe der Zentrale gemieden hatten. Zwei Männer stellten sich ihnen in den Weg: Zanreloten! Sie bauten sich vor ihnen auf und sagten mit ihren monotonen Stimmen zueinander: „Eindringlinge!“ „Kinder-Alarm!“ Karo stockte der Atem vor Angst. Doch Zarko trat den beiden unerschrocken entgegen und streckte seine Handfläche gegen sie aus, unablässig Zauberformeln murmelnd: „Ad officium vos reduco! Parete... dormite... parete... dormite... parete... dormite... In officio vos contineo!“


Bei seinem ersten Satz waren die Zanreloten jäh erstarrt und hatten einander ratsuchend angeschaut. Dann blickten sie unverwandt auf ihn. Während der folgenden Worte schienen sie immer müder und schlaffer zu werden. Beim letzten Satz schließlich standen sie still wie Statuen und ließen die Kinder passieren. „Was war das denn?“ hauchte Karo fassungslos, „Zarko, wie hast du das gemacht?“ „Hm“, erklärte er leichthin, „das Zauberbuch! Ihr solltet vielleicht mehr darin lesen. Wissen ist Macht!“

 

In der Oberwelt hatten Otti und Leon inzwischen in langwieriger Arbeit so banale Probleme wie Mathematikaufgaben gelöst. Nun waren sie endlich fertig und machten sich auf die Suche nach den beiden anderen. „Ich habe Zarko versprochen, ein paar Computerspiele mit ihm auszuprobieren“, erklärte Otti, „jetzt, wo Pinkas weg ist, können wir in aller Ruhe seinen heiligen PC und seine Games benutzen. Zarko, wo steckst du?“ Leo fiel ein: „Ich wollte Karo noch die drei Euro zurückgeben, die sie mir gestern geliehen hat. Kaaarooo!“ Keine Antwort, so oft sie auch riefen.

„Schau mal, da liegen ihre Jacken!“ rief Leo und zeigte auf einen Sessel. „Dann sind sie nicht draußen“, schloss Otti messerscharf, „es schüttet seit Stunden wie aus Eimern.“ Leo fand noch etwas: „Guck mal, da liegt Zarkos Schülerausweis. Muss aus seiner Jacke gefallen sein. Mit dem Bus sind sie also auch nicht unterwegs. „ „Nein, sie müssen im Haus sein. Bloß wo?“ „Oder in der Scheune, ich schau mal nach.“ Leo zog sich rasch die Jacke ihrer Schwester über den Kopf und rannte hinaus. Wenig später kam sie ziemlich durchweicht zurück, nur um zu verkünden, dass dort niemand war. 

In der Küche fanden sie auch nur Julia. „Mama, hast du Karo und Zarko gesehen?“ „Nein. Ach doch, wo du es sagst, sie standen vorhin vor dem großen Spiegel. Na ja, in dem Alter wird man eitel. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich wollte, dass Karo die Spülmaschine ausräumt, aber ich habe die zwei nirgends mehr gefunden.“ Otti und Leo sahen sich an. Der Spiegel? Das konnte nur eines bedeuten! „Danke, Mama, ist auch nicht so wichtig.“ Sie verließen die Küche.


„Was um Himmels willen machen die zwei in der Unterwelt?“ fragte sich Otti, „ohne uns und ohne, dass irgendetwas vorgefallen wäre.“ „Vielleicht ist ja doch was passiert!“ meinte Leo aufgeregt. Otti schüttelte den Kopf. „Dann hätten sie uns bescheid gegeben. Sie haben beide immer ihre Handys dabei und ich hatte meins die ganze Zeit bei mir. Es war an. Nein, Leo, da stimmt etwas nicht.“ Das kleine Mädchen blickte ihn ängstlich an. „Otti, tu was!“ flehte sie. „Was denn?“ „Otti, bitte, wenn etwas nicht stimmt, guckst du doch immer durch die Brille und dann weißt du, wo was faul ist. Otti, bitte!“ „Hm, na gut, dir zuliebe. Aber wo soll ich bloß suchen?“ Er fischte die magische Sonnenbrille hervor und setzte sie auf. Ratlos blickte er sich nach allen Richtungen um. „Da ist nichts, Leo... He! Was ist das denn?“ Er stürzte zum Sessel. „Was ist?“ fragte Leo und ballte vor Anspannung die Fäuste. „Zarkos Jacke! Sie leuchtet ganz grün!“ „Oh nein!“ jammerte Leo, „jemand hat Zarkos Jacke verzaubert! Armer Zarko! Vielleicht wurden er und Karo in die Unterwelt – entführt!“ „Gut möglich. Mensch, sogar sein Schülerausweis leuchtet.“ Leo starrte darauf. „Das sehe sogar ich, dabei hab ich doch gar keine Brille auf!“ „Was?“ Otti riss sich die Brille herunter. “Stimmt! Die Jacke sehe ich jetzt nicht mehr leuchten, den Ausweis schon.“ „Du, guck mal!“ schrie Leo, „die Buchstaben tanzen ja auch!“ Sie hatte richtig beobachtet. Nun sah Otti es auch. Die Buchstaben auf dem Schülerausweis glühten nicht nur grün, sie begannen sich auch zu verschieben und gegeneinander zu vertauschen.

Aus „ZARKO ELTON URS“ wurde „ZANRELOT ORKUS“.


„Orkus“, murmelte Otti atemlos, „das sagt mir irgendwas. Ich komm nur nicht drauf...“ „Ich weiß auch nicht, was das heißt“, bedauerte Leo, „aber ich weiß, was die anderen namen bedeuten. Karo hat es gegoogelt. Ich glaube, sie ist verknallt in Zarko, dann tut man sowas. ‚Zarko’ heißt ‚Glut’ oder ‚Feuer’. ‚Elton’ bedeutet ‚alte Stadt’ und ‚Urs’ ist ein Bär.“ „Das mit dem Bären wusste ich“, grübelte Otti, „na ja, ein Bär ist ein beliebtes Wappentier. Er steht einfach für Stärke, Macht. Elton, die alte Stadt, - Lübeck? Die alte Hansestadt, Zanrelots Ziel? Und Feuerglut passt ja auch irgendwie zu einem Dämon... Aber ich fürchte, viel wichtiger ist der wahre Name, nicht der Deckname. ‚Zanrelot’, okay, aber was heißt dieses ‚Orkus’? Warte, ich schaue in Wikipedia nach.“

Sie stürmten an Pinkas’ Computer und wählten sich ins Internet ein. Leo schaute Otti neugierig über die Schulter, während er nachschlug. „Hier ist es“, murmelte er halblaut, „Orkus: in der römischen Religion die Unterwelt, bla bla bla, auch: der Gott der Unterwelt...“ Er schlug sich an die Stirn.

„Natürlich!               ‚Zanrelot Orkus’:          ‚Zanrelot, Herr der Unterwelt’!

Es ist einfach seine Unterschrift, Leo!“

Leo starrte ihn entsetzt an. „Willst du damit sagen,... Zarko ist Zanrelot?“ Otti nickte und sagte betroffen: „Anders kann ich es mir nicht zusammenreimen. Auch wenn es verdammt schwer vorstellbar ist. Mensch, mein Freund Zarko, dieser nette Kerl?“ Leo hatte andere Sorgen: „Otti! Er hat meine Schwester Karo in seiner Gewalt! In der Unterwelt! Wir müssen runter und sie retten, schnell!“ „Ja, du hast recht. Komm, wir... Warte mal! Sei mal ganz still, Leo! Hörst du das auch?“ Sie lauschte einen Moment und schüttelte stumm den Kopf. „Da war ein Geräusch“, sagte Otti, „es kam aus dem Keller! Vielleicht sind sie gar nicht in der Unterwelt, sondern bloß in unserem Keller!“ „Ja, da haben wir noch gar nicht gesucht!“ fiel Leo ein, „komm, wir sehen nach!“  


Sie stiegen die Treppe hinab und jetzt hörte Leo es auch ganz deutlich: Ab und zu waren Schritte zu hören, dann wieder einzelne, leise gesprochene Worte. „Es kommt aus Saschas Werkstatt“, flüsterte sie, „aber Sascha ist nicht da. Der hat doch heute diesen Termin in Bremen.“ Ganz vorsichtig öffnete Otti die Tür einen Spalt und sie spähten hinein. Zum Glück fiel ausreichend Licht durch das Kellerfenster. „Aber das ist ja...“, wisperte Leo. „Matreus“, bestätigte Otti und wunderte sich: „Wie ist der denn drauf?“ Matreus blondes Haar war nicht nur nass wie seine ganze Kleidung, sondern auch so verfilzt, als hätte es lange keinen Kamm mehr gesehen. Sein Gesicht wirkte bleich und eingefallen, sein Blick unstet und verzweifelt. Er lief in der Werkstatt auf und ab und führte leise Selbstgespräche. Die Kinder konnten nur einzelne Fetzen verstehen: „Meister, bitte! ... Attrago dominum! ... geht doch so nicht ... mich nicht ganz allein ... Meister ... bitte zurück!“ Er zog den Zauberstab und stammelte: „Attrago ... attrago dominum!“ Was immer der Spruch bewirken sollte, es traf nicht ein. In ohnmächtiger Wut schleuderte Matreus den Zauberstab von sich. Er blieb in einer Zimmerecke liegen. „Er hat ja Tränen in den Augen!“ flüsterte Leo. „Was viel wichtiger ist: Er hat keine Waffe mehr!“ erwiderte Otti, „setz deinen Handschuh ein, Leo! Feuer auf ihn!“ „Was?“ „Du sollst einen Strahl auf ihn schießen. Nun mach schon, bevor er sich den Zauberstab zurückholt!” „Das kann ich nicht“, jammerte Leo, „der Handschuh ist zum Heilen da und nicht zum...“ „Ach was, der kann auch anders eingesetzt werden“, war sich Otti sicher, „wenn du es nicht kannst, gib ihn mir!“ „Es ist mein magischer Löser!“ „Ja, aber meine Brille bringt uns in diesem Fall nicht viel, und das Amulett und der Laser sind nicht hier. Blauer Strahl ist blauer Strahl, gegen Dämonen eingesetzt und mit der nötigen Entschlossenheit. Nun gib schon! Leo, denk an deine Schwester!“ Die letzten Worte brachen Leos Widerstand. Sie reichte ihm den Handschuh. Er streifte ihn über und feuerte ohne Zögern auf Zanrelots Helfer.

Matreus schrie auf, als der Strahl ihn unvermutet und mit voller Wucht traf. Es riss ihn von den Füßen. Er krümmte sich auf dem Boden und streckte eine Hand nach seinem Zauberstab aus, doch der lag in unerreichbarer Entfernung. Der Wächter feuerte weiter. Matreus hob abwehrend eine Hand, doch Otti rief: „Handmagie? Funktioniert nur bei Z! Ohne deinen Zauberstab bist du wehrlos!“ Leo wandte ein: „Ich glaube, er wollte gar nicht zaubern. Er wollte dich nur bitten aufzuhören. Otti, lass ihn!“ Doch er schüttelte entschlossen den Kopf. „Denkst du, mir macht das Spaß? Aber es muss sein, wenn wir deine Schwester retten wollen.“ Leo hatte Tränen in den Augen, doch der Hinweis auf Karo hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Als Otti sie um ein Seil bat, suchte sie eins aus Saschas Bastelkisten heraus und half Otti, Matreus zu fesseln. Zwar musste dafür das Strahlenfeuer unterbrochen werden, doch Matreus war ohnehin nicht mehr in der Lage, schnell aufzustehen oder sich großartig gegen die magischen oder auch nur körperlichen Kräfte der Wächter zu wehren. Bald hockte er, verschnürt wie ein Paket, auf dem Kellerboden.

„So“, forderte Otti im herrischsten Tonfall, den er hinbekam, „dann erzähl mal! Was ist mit deinem Meister?“ Matreus blickte trübsinnig zu Boden. „Ich will meinen Meister wiederhaben!“ wimmerte er. „Den kannt du gern wiederhaben“, schnaubte Otti, „wir brauchen ihn hier nicht! Aber vorher soll er uns Karo zurückgeben!“ Erstmals schien Matreus wirklich auf seine Worte zu reagieren: „Er hat Karo?“ „Ja, er hat Karo! In der Unterwelt!“ Matreus’ Blick wurde noch verzweifelter als zuvor. „In der Unterwelt?“ Er brach unter Tränen in ein beinahe wahnsinniges Gelächter aus. „Und ich suche ihn hier!“ „Hier war er ja auch lange genug, wie du genau beobachtet hast. Hat sich bei uns eingeschlichen, als lieber, netter Zarko! Wie hat er das hinbekommen? Sag schon!“ Matreus schüttelte den Kopf und fixierte wieder den kalten Steinfußboden. „Ich werde meinen Meister nicht verraten“, sagte er leise.

„Raus mit der Sprache!“ Ein erneuter blauer Lichtstrahl traf Matreus. Er schrie auf und rief dann noch einmal laut: „Ich werde meinen Meister nicht verraten!“ Otti feuerte noch einmal. Matreus biss vor Schmerz die Zähne zusammen. „Otti, hör auf!“ flehte Leo, „er kann sich doch nicht wehren, hör auf!“ „Ach, er kann sich nicht wehren?“ entgegnete Otti wütend, „er braucht uns bloß zu sagen, was wir wissen wollen! Los, sag es!“ Lichtstrahl, Schrei. Mehrmals hintereinander dasselbe grausame Spiel. Leo hatte sich weggedreht und weinte. Auch Matreus liefen inzwischen Tränen übers Gesicht. Er konnte es weder verhindern, noch sie abwischen. Aber Otti hatte sich in seine Rage hineingesteigert, wie in einen Rausch. Er machte gnadenlos weiter. So hatte er sich selbst nicht gekannt.

 

Irgendwann konnte Matreus nicht mehr. „Hör auf“, bat er verzweifelt, „ich werde reden.“ Otti stellte das Strahlenfeuer ein, richtete den Handschuh aber weiter auf seinen Gefangenen. „Dann los! Ich will jede verdammte Einzelheit wissen! Wie konnte sich Z in einen Jungen verwandeln? Warum kann er an die Oberfläche? Und essen, trinken, lachen, nett sein, das alles? Was für ein mieser Trick ist das? Und was bezweckt er damit? Hatte er von Anfang an vor, Karo zu entführen? Was macht er mit ihr? Na los, rede!“

Matreus schien jedes einzelne Wort wehzutun, das er herauswürgte. Nicht körperlich, wie die Strahlen, aber seelisch. „Er... hatte nicht vor, Karo zu entführen... Es... macht mir Sorgen, dass er das getan hat... Ich weiß nicht, wieso er sie mitgenommen hat.“ Er schrie unter einem erneuten Strahlenangriff auf. „Ich weiß es doch wirklich nicht! Wirklich!“ „Und wieso macht es dir Sorgen?“ Matreus brauchte einen Moment, bis er wieder sprechen konnte. „Weil... Er vermenschlicht zu sehr... Viel zu sehr!“ „Erklär mir das! Ein bisschen schnell oder...“ „Ich rede ja! Dieser Besessenheitszauber... Ich mochte ihn nie. Wie oft musste ich das machen! Man kann in fremden Körpern Dinge tun, die man sonst nicht kann. Aber ihre menschlichen Schwächen färben auch ab, wenn man zu lange drin bleibt. Er ist schon so lange da drin! Ich habe Angst um ihn! Er muss dringend zurück! Aber es hat ihn schon so weit gefangen, dass er das nicht mal mehr einsieht!“

 

Otti sah Matreus aus zusammengekniffenen Augen hasserfüllt an. „Er hat also irgendeinen unschuldigen Jungen besessen? Einfach seinen Körper geklaut, oder wie?“ Matreus schüttelte matt den Kopf. Wie sollte er einem so Unwissenden nur die höhere Magie erklären? In so kurzer Zeit, bevor der wieder anfing, auf ihn zu feuern? „Das ist alles viel komplizierter“, versuchte er klarzustellen, „nein, er hat niemanden beklaut. Der betreffende Junge lebt fröhlich weiter vor sich hin, irgendwo auf eurer unsäglichen Welt. Er hat seinen Körper und seine Seele, wie eh und je. Und was er Zanrelot gab, hat er ihm freiwillig geschenkt.“ „Was hat er ihm gegeben? Rede! Was hat Zanrelot mit ihm gemacht?“ „Ihn geklont.“ Matreus seufzte. Es war wirklich schwer, das einem Laien zu erklären. „Es gibt da einen kurzen Moment im Werden eines Klons, den nur ein sehr geübter Magier erkennt: der Augenblick zwischen Sein und Nichtsein. Wenn das neue Wesen schon fertig ist und gerade zum Leben erwacht, aber noch keine eigene Seele hat. Passt man den ab, kann man dem Klon die eigene Seele geben. Zanrelot ist ihn ihn hinein geschlüpft und wenn er den Körper wieder verlässt, ist der nur eine leere Hülle. Er kann ihn aufbewahren, wegwerfen, was auch immer. Er tut damit niemandem weh.“ Matreus kämpfte erneut gegen die Tränen an. „Aber er verlässt ihn ja nicht! Es ist etwas schiefgelaufen, aus irgendeinem Grund will er nicht mehr da raus. Er erinnert sich wohl nicht mal mehr ganz daran, wer er eigentlich ist. Doch wenn er zu lange wartet, wird er... keinen eigenen Körper mehr haben, in den er zurückkehren kann!“ „Wär ja nicht das Schlimmste“, sagte Otti kalt. „Ich will meinen Meister wiederhaben!“ flüsterte Matreus verzweifelt.

Ein Blick auf Ottis Hand mit dem Strahlenhandschuh ließ ihn rasch weiterreden. „Jetzt hat er Karo... Ich glaube nicht, dass er ihr etwas tun will. Nein. Er... der, der er geworden ist,... er liebt sie, fürchte ich! Ihr solltet mit mir hoffen, dass er sich von dem Bann befreien wird! Ihr wollt sicher nicht eure Karo an ihn verlieren und ich...“ Er senkte den Blick und die Stimme. „Und ich ihn nicht an sie...“

 

Otti starrte ihn ungläubig an. „Du willst mir erzählen, dass Zanrelot in Karo verknallt ist? In einen Teenager? Mein Gott, er ist fast fünfhundert Jahre alt!“ „Das weiß er ja nicht mehr“ jammerte Matreus, „nicht so richtig, fürchte ich. Er wird immer mehr zu diesem... Jungen und vergisst, wer er ist. Wenn er jetzt so weit vermenschlicht, dass er tatsächlich eine Beziehung mit diesem Mädchen eingeht, dann ist er verloren! Dann wird er alles vergessen und kehrt nie wieder zurück! Und eure Karo auch nicht.“

Otti strafte Matreus für diese Auskunft mit einem erneuten schmerzhaften Strahl. „Hör auf!“ schrie Leo, „er kann doch gar nichts dafür! Und er hat dir alles gesagt!“ Aber Otti empfand eine so wahnsinnige Wut über all das Gehörte, dass er sich völlig vergaß. „Alles? Längst nicht! Red weiter, Matreus! Wenn alles so schief gelaufen ist, was war denn dann der ursprüngliche Plan?“ „Nur... sich hier einzuschleichen... bei den Wächtern... um Informationen zu sammeln, weiter nichts. Ich habe ihn gebeten, es mir zu überlassen, doch er wollte es selbst tun. Hatte wohl kein Vertrauen mehr in meine Fähigkeiten. Er hat diesen Filmvertrag für Pinkas eingefädelt, damit dessen Platz frei wird. Aber er sollte ihn doch nicht auch bei Karo einnehmen! Doch seine neuen Fähigkeiten, an die Oberfläche gehen, essen, lachen, Freunde finden, ja, sogar zur Schule gehen, all das... Das hat ihn fasziniert, hat ihm Spaß gemacht. Hat ihn mehr und mehr gefangen genommen. Ihn nach und nach vergessen lassen, wer er wirklich ist und was er wirklich will. Hat ihn auch mich vergessen lassen... Weißt du nun endlich alles, was du wissen wolltest? Bitte lass mich gehen! Ich muss meinen Meister suchen! Ich habe doch alles gesagt.“

Doch Otti schien sich selbst beinahe ebenso vergessen zu haben, wie Zanrelot. Er hatte nicht vor aufzuhören. „Du hast bestimmt noch nicht alles gesagt! Dämonen sagen nie die Wahrheit und wenn gezwungenermaßen doch, dann nur die halbe!“ Erneut fügte er seinem Gefangnen Schmerzen zu. „Hör auf!“ wimmerte Matreus, „was willst du denn noch hören? Was denn?“ Leo schluchzte laut auf. „Lass ihn doch endlich!“ bat sie, „lass ihn gehen und Z und Karo suchen! Er will doch auch nicht, dass die zwei zusammen bleiben.“ Doch mit Vernunft war Otti nicht mehr zu erreichen. „Ich will alles wissen!“ schrie er, „alles! Am Ende verheimlicht er uns irgendetwas Wesentliches und haben wir ihn erst laufenlassen, werden wir es nie erfahren.“  „Und wenn da wirklich nichts mehr ist? Otti!“ „Wenn nicht... Es ist bloß ein Dämon, was macht das schon?“ Er schoss noch einen Lichtstrahl auf Matreus. „Los, red weiter! Was ist mit dem Jungen, den er geklont hat? Warum hat er Z freiwillig geholfen? Wie heißt er? Wo wohnt er?“ „Das ist doch ganz egal“, jammerte Leo, doch er beachtete sie nicht.

 

Matreus schüttelte verzweifelt den Kopf. „Nein! Nein, das sage ich dir nicht! Ich habe schon viel zu viel gesagt, und du wirst sowieso nie aufhören. Du wirst immer mehr hören wollen und mehr und noch mehr, wo gar nichts mehr ist. Wenn du beschlossen hast, mich umzubringen, tu es! Aber den Jungen werde ich nicht verraten! Niemals! Der Meister würde mich dafür hassen. Ich bringe den Jungen nicht in Gefahr. Ich habe dich kennengelernt, Ottokar Sörensen! Wenn ich dir den Namen und die Adresse sage, gehst du hin und bringst den Jungen um!“

„Aha!“ schrie Otti ihn an, „also ist das eben nicht unwichtig! Es wird wohl einen guten Grund geben, warum ich den Jungen umbringen müsste! Es kann nicht unwichtig sein, wenn der Meister dich für diese Auskunft hassen würde! Los, rede! Rede!“ Aber Matreus sagte kein Wort mehr. Er ließ den Strahlenregen auf sich niedergehen und hatte es aufgegeben, auf Gnade oder ein Entkommen zu hoffen. Das einzige, was er noch von sich gab, waren Schreie, wenn er es nicht mehr aushalten konnte.


Zarko und Karo kehrten aus der Unterwelt zurück. Sie lachten, als sie in der Scheune auftauchten. Sie hatten ein herrliches Abenteuer zusammen erlebt, auch etwas Nervenkitzel, aber keine ernsthafte Gefahr. Dafür hatten sie viele Interessantes gesehen, und die paar etwas heiklen Situationen hatten ihr Zusammengehörigkeitsgefühl nur verstärkt. Alles in allem war es ein rundum schöner Nachmittag gewesen und nur der Hunger hatte sie schließlich wieder an die Oberfläche getrieben. „Lass uns sehen, was Mama zum Abendessen bereithält!“ sagte Karo, und Zarko lief bei dem Gedanken schon das Wasser im Munde zusammen. Wieder machte er einen großen Satz vom Heuhaufen bis vor die Tür. Er achtete sehr darauf, den magischen Fußboden nicht zu berühren. Kichernd und plaudernd liefen sie über den Rasen zum Haus.

 

„Mama?“ Keine Antwort. „Hm, ihr Fahrrad ist nicht da. Sie kauft wohl noch was ein, für’s Abendessen.“ Als sie über die Schwelle traten, stutzen sie und sahen sich erschrocken an. „Hast du das auch gehört?“ „Ja, Schreie! Grauenvolle Schreie! Das kam aus dem Keller. Los, komm!“ Sie rannten treppab. „Ich kenne diese Stimme“, überlegte Zarko, „Matreus!“ Plötzlich fiel ihm ganz viel wieder ein. „Matreus, ich komme!“ Er rüttelte an der Tür, doch sie war von innen abgeschlossen und offenbar auch mit einem magischen Bann versehen worden. Hastig griff er nach dem Laserpointer in seiner Tasche, der jede Tür öffnen konnte. Doch da war nichts! „Oh, Mist“ fluchte er, „ich muss ihn unterwegs verloren haben! Das darf doch nicht wahr sein! Ich muss diese Tür öffnen!“ Ihm fiel ein, es auf nicht-magische Weise zu versuchen. Aber wie? „Joschi, bitte hilf mir!“ flüsterte er. Karo sah ihn verwundert an. „Joschi? Wer ist Joschi?“ Doch er gab ihr keine Antwort. Er hatte die Augen geschlossen und konzentrierte sich so fest, wie er konnte.

Der Klon, den er aus Joschis Haar erschaffen hatte, besaß keine eigene Seele, sondern die Zanrelots, solange der ihn bewohnte. Doch er hatte Joschis Vorrat an Erinnerungen in seinem Hirn. Die waren äußerst nützlich gewesen, um sich wie ein echter Junge zu benehmen und nicht aufzufallen. Wusste Joschi, wie man Schlösser knackte? Bitte, bitte! - Ja, er wusste es! Zarko zog eine Haarnadel aus Karos Haaren, bog sie zurecht und fummelte damit in dem Schloss herum. Und nach wenigen Versuchen sprang sie auf!

 

Den beiden bot sich ein grauenvoller Anblick. Leonie hockte in einer Ecke, mit fest geschlossenen Augen, und hielt sich die Ohren zu. Matreus saß inzwischen nicht mehr, sondern lag auf dem kalten Steinboden, am ganzen Körper gefesselt, und Otti, ihr Freund Otti, stand über ihm und traktierte ihn mit grausamen Strahlen. Keiner der drei bemerkte die Ankömmlinge, und diese waren im ersten Moment so erstarrt, dass sie nicht handeln konnten.

 

„Sag es!“ schrie Otti und feuerte diesmal aus nächster Nähe. Matreus schrie auf und flehte: „Hör bitte auf! Ich will ja auch wieder reden, aber ich darf den Namen nicht verraten! Der Junge ist Zanrelots Ururur-ich-weiß-nicht-wie-viele-Ur-Enkel. Er hat es erst vor kurzem herausgefunden. Jona, der alte Weiberheld, hat sich im Mittelalter Nachwuchs verschafft und seinem Vater nichts davon gesagt. Dass der Junge von ihm abstammt, hat die Sache mit dem Haar und dem Klonen erleichtert, perfektioniert. Zu perfekt, fürchte ich...“ „Aha! Das wird ja immer interessanter, sieh an! Und jetzt sag mir den Namen!“ „Nein, niemals!“

Otti wollte den Handschuh erneut auf sein Opfer richten, doch ein anderer Strahl fuhr dazwischen. Ein grüner Strahl. Otti wirbelte herum und auch Leo schreckte hoch. „Karo!“ rief sie, „oh, bin ich froh, dass du lebst! Und dass ihr gekommen seid! Macht, dass er aufhört! Bitte macht, dass Otti aufhört!“ „Keine Angst, dafür sorge ich!“ knurrte Zarko und hielt Otti in Schach. „Ha! Du noch!“ schrie Otti. „He, Karo, dein feiner Freund ist nicht, wofür du ihn hältst!“ Karo, die ihn die ganze Zeit nur entsetzt angestarrt hatte, erwiderte angewidert: „Otti, du, mein feiner Freund, du bist nicht das, wofür ich dich gehalten habe!“ Sie kniete sich neben Matreus und hatte in dem Moment ganz vergessen, dass er ihr Feind war. Sie sah nur jemanden, der vollkommen wehrlos war und furchtbare Qualen durchlitten hatte. „Otti, was hast du getan?“ Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und tupfte ihm behutsam den Schweiß von seinem blassen Gesicht und die Tränen, die er selbst nicht abwischen konnte. „Danke“, sagte Zarko an Matreus’ Stelle, „danke, Karo.“ „Wofür?“ „Dass du ihm seine Würde wiedergegeben hast.“

 

„Er ist Z!“ schrie Otti, „Karo, er ist Z! Zarko ist Zanrelot!“ „Fängst du jetzt auch noch mit dem Unsinn an?“ fauchte sie, doch Zarko selbst sagte: „Es ist wahr.“ Sie starrte ihn an. „Wahr?“ „Ja. Lass es dir später von Otti und Leo erklären, jetzt ist keine Zeit.“ Er warf einen Bannfluch auf Otti, der ihn für eine Stunde lähmen würde. Dann zog er ihm den Handschuh über die erstarrten Finger und gab ihn Leo zurück. Er hockte sich neben Karo, zu Matreus. Der sah ihn mit unsagbar traurigen Augen an und sagte mit schwacher Stimme: „Meister! Mein Meister! Verzeiht mir, ich wollte euch nicht verraten!“ Zarko legte ihm sanft eine Hand auf die Stirn und beruhigte ihn: „Du hast mich nicht verraten, Matreus. Du bist der treueste Freund, den man haben kann. Ich war selbst Zeuge, dass du den Namen des Jungen nicht preisgegeben hast, trotz allem. Ich danke dir.“ Matreus zitterte leicht unter der ungewohnten Berührung. „Meister!“ flüsterte er ungläubig, „was tut Ihr?“ „Das, was du so nötig brauchst und was ich jetzt noch geben kann und bald nicht mehr.“ „Dann kehrt Ihr zurück?“ „Ja, Matreus, ich kehre zurück. Du hast mich an mich selbst erinnert, bevor es zu spät war.“ Mit einem gezielten Zauber löste er die Fesseln seines Helfers. „Kannst du aufstehen, Matreus? Dann lass uns nach Hause gehen, komm!“ Matreus Augen leuchteten. „Wenn das so ist“, wisperte er, „dann kann ich.“

 

„Karo!“ sagte Zarko und blickte ihr ernst in die Augen, „dir danke ich auch, solange ich das noch über die Lippen bringe. Bald werden wir wieder Feinde sein. Ich habe es mal mit eurer Welt und mit dem Gutsein ausprobiert. Aber was ich hier sehe, ist nichts anderes, als was ich aus dem Mittelalter von euch Menschen in Erinnerung hatte: Folter! Es hat sich nicht viel verändert. Trotzdem, Karo, was dich angeht,... vielleicht vergisst man nicht alles. Es war schön.“ Er lächelte noch einmal schelmisch und korrigierte sich: „Nein, es war cool. Und sehr abgefahren!“ Dann verschwanden er und Matreus von der Erdoberfläche.


Die Unterwelt hatte sie wieder. Matreus hatte sich mit etlichen Gläsern des grünen Elixiers einigermaßen gestärkt und Zanrelot war aus dem Körper des Jungen geschlüpft und hatte ihn den Zanreloten übergeben, für die Tiefkühlkammer. Er wollte sich nicht ganz der Möglichkeit berauben, ihn noch einmal einzusetzen. Und das, obwohl er heilfroh war, noch einmal aus der Sache und dem Körper herausgekommen zu sein! Er betrachtete zufrieden seinen eigenen Körper, in dem er seit fast fünfhundert Jahren recht gut lebte und der nicht alterte. Aber obwohl er nicht mit diesen Händen andere zärtlich berührt und nicht mit diesem Mund lauter Nettigkeiten gesagt hatte, empfand er ein starkes Gefühl von Ekel und Unreinheit. „Matreus!“ rief er, „lass mir ein magisches Bad ein! Ich habe das dringende Bedürfnis, mich zu waschen.“ Doch als sein Helfer sich gehorsam heranschleppte, änderte er seinen Befehl ab: „Nein. Ich lasse mir mein Bad selbst ein. Und nimm du auch eins, das wirkt Wunder gegen die Schmerzen!“ Matreus starrte ihn ungläubig und etwas besorgt an: „Meister?“

 

„Ja, was ist?“ brummte Zanrelot unwillig, „du heißt ja schließlich nicht Elton. Und ich nicht Stefan Raab.“ „Wie bitte? Wer? Äh...“ „Frag mich nicht! Vergiss es! Und geh baden! Dass du mir nur bald wieder fit wirst! Uns ist viel finstere Arbeit liegen geblieben.“




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